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Burckhardt, Jacob
Der Cicerone: Eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens — Basel, 1855

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https://doi.org/10.11588/diglit.1179#0711
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ßgg Barocksculptur. Idealtracht. Künsteleien.

Die ideale Tracht aber verschlingt den Körper in ihren wei-
ten fliegenden Massen und flatternden Enden, von welchen das Auge
recht gut weiss, dass siefactisch centnerschwer sind. Die Politur,
womit Bernini und viele seiner Nachfolger das ideale Gewand, zumal
himmlischer Personen, glaubten auszeichnen zu müssen, verderbt das-
selbe vollends. Es gewinnt ein Ansehen, als wäre es — man erlaube
die Vergleichung — mit dem Löffel in Mandelgallert gegraben. Thon-
figuren sind desshalb oft leidlicher als marmorne.

Bisweilen wurde aber auch auf ganz besondere Art mit der Ge-
wandung gekünstelt. Eine der unvermeidlichen Sehenswürdigkeiten
Neapels sind die drei von allen Neapolitanern (und auch von vielen
aFremden) auf das höchste bewunderten Statuen in der Capelle der
Sangri, Duchi di S. Severo: sämmtlich um die Mitte des vorigen
Jahrh. gearbeitet. "Von San Martino ist der ganz verhüllte todte
Christus, eine Gestalt, welche zwar kein höheres Interesse hat, als
das Durchscheinen möglichst vieler Körperformen durch ein feines Lin-
nen, doch wird der Beschauer weiter nicht gestört. Von Corradim
ist die ganz verhüllte sog. Pudicitia, mit welcher es schon viel miss-
licher aussieht; ein Weib von ziemlich gemeinen Formen , die sieh
vermöge der künstliehen Durchsichtigkeit der Hülle weit widriger auf-
drängen , als wenn die Person wirklich nackt gebildet wäre ')• »on
dem Genuesen Queirolo aber ist die Gruppe „il disinganno, die Ent-
täuschung" : ein Mann (Porträt des Raimondo di Sangro) macht sicn
aus einem grossmächtigen Stricknetze frei mit Hülfe eines höchst ab-
geschmackt herbeischwebenden Genius. Welche Marter an diesen
Arbeiten auch die meisselgewandteste Virtuosenhand ausstehen musst ,
weiss nur ein Bildhauer ganz zu würdigen. Und bei all der Illusion
ist der geistige Gehalt null, die Formengebung gering und selbst elen ■
Die Capelle ist noch mit andern Arbeiten dieser Zeit angefüllt, v»
von da unmittelbar zur Incoronata geht, kann mit doppeltem Erstaun
sich überzeugen, mit wie Wenigem das Höchste sich zur Erscneinu g
bringen lässt.

*) Ton demselben Corradini steht eine verhüllte „Wahrheit" in der Galerie
frin zu Venedig.
 
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