Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Burckhardt, Jacob; Bode, Wilhelm
Der Cicerone: eine Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens (Band 1): Antike Kunst — Leipzig, 1884

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.17367#0032
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
2

Antike Architektur. Tempel von Pästum.

Den ältesten griechischen Tempeln, wie z.B. demjenigen von Ocha
auf Euböa, genügte ein Bau von vier Steinmauern. Als aber eine
griechische Kunst erwachte, schuf sie die ringsum gehende Säulenhalle
mit dem Gebälk, zuerst vielleicht von Holz, bald von Stein. Diese
Halle ist, abgesehen von ihren besonderen Zwecken, nichts als ein
idealer, lebendig gewordener Ausdruck der Mauer selbst. In wunder-
barer Ausgleichung wirken strebende Kräfte und getragene Lasten zu
einem organischen Ganzen zusammen.

Was das Auge hier und an anderen griechischen Bauten er-
blickt, sind eben keine blossen Steine, sondern lebende Wesen. Wir
müssen ihrem innern Wesen und ihrer Entwicklung aufmerksam
nachgehen.

Die dorische Ordnung, welche wir hierin ihrer vollen alter-
thümlichen Strenge an einem Gebäude vom Ende des 6. Jahrh. v. Chr.
vor uns haben, lässt diese Entwicklung reiner und vollständiger er-
kennen als ihre Schwester, die ionische. Der Ausdruck der dorischen
Säule musste hier, dem gewaltigen Gebälke gemäss, derjenige der
grössten Tragkraft sein. Man konnte .möglichst dicke Pfeiler oder
Cylinder hinstellen, allein der Grieche pflegte nicht durch Massen,
sondern durch ideale Behandlung der Formen zu wirken. Seine
dorische Ordnung aber ist eine der höchsten Hervorbringungen des
menschlichen Formgefühls.

Das erste Mittel, welches hier in Betracht kam, war die Ver-
jüngung der Säule oaach oben. Sie giebt dem Auge die Sicherheit,
dass die Säule nicht umstürzen könne. Das zweite waren die Canel-
lirungen. Sie deuten an, dass die Säule sich innerlich verdichte und
verhärte, gleichsam ihre Kraft zusammennehme; zugleich verstärken
sie den Ausdruck des Strebens nach oben und erzeugen einen ange-
nehmen Wechsel von Licht und Schatten. Die Linien aber sind wie
im ganzen Bau nirgends, so auch in der Säule nicht mathematisch
hart; vielmehr giebt eine leise Anschwellung das innere schaffende
Leben derselben auf das Schönste zu erkennen.

So bewegt und beseelt nähert sich die Säule dem Gebälk. Der
mächtige Druck desselben drängt ihr oberes Ende aus einander zu einem
Wulst (Echinus), welcher hier das Capitäl bildet. Sein Profil ist in
jedem dorischen Tempel der wichtigste Kraftmesser, der Grundton des
Ganzen. Nach unten zu ist er umgeben von drei Ringen, gleich als
verschöbe sich hier eine zarte, lockere Oberhaut der Säule. Ihnen
entsprechen und antworten etwas wejter unten, an der Säule selbst,
drei Einschnitte ringsum. — Eine starke viereckige Deckplatte isolirt
die Säule vom Gebälk

(An vielen Stellen dieses Tempels scheinen die Säulen auf vier-
eckigen Untersätzen zu stehen, allein nur weil Steine dazwischen weg-
genommen worden sind. Die dorische Säule, als erdgeborne Kraft.
 
Annotationen