498
STEREOMETRISCHE FORMEN
7. Johannes auf Patmos. Miniatur aus einem
Manuskript der Heidelberger Universitätsbiblio-
thek (Cod. pal. Germ. 322).
8. Konrad Witz: Christophorus. Basel, Öffentliche
Sammlung.
Und ebenso natürlich ist es dann, daß sie sich darin vor allem an jenen Bestandteil
klammerte, der ihrem Bedürfnis nach stereometrisch faßbaren Formen am ehesten entgegen-
kam, an das Gestein, das aus dem Boden ragt, an Felsen und felsige Bergkuppen, dann
aber an Burgen mit Söllern und Zinnen.
Die Miniatur aus einem Ms. der Berliner Bibliothek, Johannes auf Patmos darstellend (Abb. 7),
zeigt eine wahrhaft zyklopisch aufgebaute Felsenwand, und in seltener Reinheit tritt uns hier der spielerisch-
ernste Charakter dieser Generation entgegen. So scharf geschnitten die Gestalt des Evangelisten sein mag,
sie wird von den grell beleuchteten Quadern förmlich erdrückt, die mit fanatischer Konsequenz den Licht-
einfall festzuhalten und zu unterstreichen bestimmt sind. — Und aus einem solchen Gefühl heraus sind dann
die Felskulissen des Witzschen Christophorus in Basel (Abb. 8) zu begreifen, die von beiden Seiten die Ge-
stalt des heiligen Riesen bedrohen. Hier kam allerdings der unerbittliche Realist zu Worte, dem das Schema .
genügte und der den Lichteinfall so konstruierte, daß dieser jedem einzelnen der vier Felsversatzstücke ein
grundsätzlich anderes Aussehen verlieh, vom Halbschatten über die dunkelste Stelle zum hellsten Licht in
weiter Ferne. Das war freilich Virtuosentum, das nur ein Kenner der Landschaft von seinem Wurf sich
leisten konnte.
Die Bodenseegegend hat — soviel wir heute sehen — die deutsche Landschaftsmalerei
geschaffen. Es ist verlockend, der Vermutung zu folgen, daß dieses einzige große Gewässer
auf oberdeutschem Boden, gelagert zwischen der Schweiz und Tirol, das Grenzgebiet
zwischen Schwaben und Bayern, die geheimsten Instinkte deutscher Maler entfesselt habe.
Wer an Baldungsche Wolken denkt oder an Altdorfersche Berge, dem wird es einleuchten,
daß dieses „Schwäbische Meer“ für Deutschland dieselbe Rolle zu spielen berufen war, wie
STEREOMETRISCHE FORMEN
7. Johannes auf Patmos. Miniatur aus einem
Manuskript der Heidelberger Universitätsbiblio-
thek (Cod. pal. Germ. 322).
8. Konrad Witz: Christophorus. Basel, Öffentliche
Sammlung.
Und ebenso natürlich ist es dann, daß sie sich darin vor allem an jenen Bestandteil
klammerte, der ihrem Bedürfnis nach stereometrisch faßbaren Formen am ehesten entgegen-
kam, an das Gestein, das aus dem Boden ragt, an Felsen und felsige Bergkuppen, dann
aber an Burgen mit Söllern und Zinnen.
Die Miniatur aus einem Ms. der Berliner Bibliothek, Johannes auf Patmos darstellend (Abb. 7),
zeigt eine wahrhaft zyklopisch aufgebaute Felsenwand, und in seltener Reinheit tritt uns hier der spielerisch-
ernste Charakter dieser Generation entgegen. So scharf geschnitten die Gestalt des Evangelisten sein mag,
sie wird von den grell beleuchteten Quadern förmlich erdrückt, die mit fanatischer Konsequenz den Licht-
einfall festzuhalten und zu unterstreichen bestimmt sind. — Und aus einem solchen Gefühl heraus sind dann
die Felskulissen des Witzschen Christophorus in Basel (Abb. 8) zu begreifen, die von beiden Seiten die Ge-
stalt des heiligen Riesen bedrohen. Hier kam allerdings der unerbittliche Realist zu Worte, dem das Schema .
genügte und der den Lichteinfall so konstruierte, daß dieser jedem einzelnen der vier Felsversatzstücke ein
grundsätzlich anderes Aussehen verlieh, vom Halbschatten über die dunkelste Stelle zum hellsten Licht in
weiter Ferne. Das war freilich Virtuosentum, das nur ein Kenner der Landschaft von seinem Wurf sich
leisten konnte.
Die Bodenseegegend hat — soviel wir heute sehen — die deutsche Landschaftsmalerei
geschaffen. Es ist verlockend, der Vermutung zu folgen, daß dieses einzige große Gewässer
auf oberdeutschem Boden, gelagert zwischen der Schweiz und Tirol, das Grenzgebiet
zwischen Schwaben und Bayern, die geheimsten Instinkte deutscher Maler entfesselt habe.
Wer an Baldungsche Wolken denkt oder an Altdorfersche Berge, dem wird es einleuchten,
daß dieses „Schwäbische Meer“ für Deutschland dieselbe Rolle zu spielen berufen war, wie