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Busch, Werner
Die notwendige Arabeske: Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.52657#0012
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sie nicht zuließen; sie ließen sie zu, sie trugen sie in sich, wo sie noch geglaubt waren; wo
sie aber im Zeitalter der Aufklärung künstlich aus dem Grabe gezogen werden, da äußert
sich der Unglaube in der Frostigkeit der ganzen Behandlung, welche dem Verstand allego-
rische Rätsel zu raten gibt, statt Sinn und Herz zu erfreuen, und die Formen in dem Sinne
stilisiert, welchem der Verfasser der Kritik unserer beiden Bilder [Igelsheimer] so treffend
die Forderung entgegenstellt, daß die reelle wirkliche Individualität innerhalb ihrer selbst
in ihr eigenes Ideal erhoben werden soll«. Und wenig später heißt es noch einmal gegen die
Münchner Schule: »Da werden nun die monarchischen Stoffe des Mittelalters obligat be-
handelt, in dem Sinne stilisiert, wie die Bilder der mythischen Malerschule und aus dem-
selben Grunde: da ist ebenfalls keine Gegenwart, keine Lebenswärme in der Behandlung,
weil schon im Stoffe keine ist. Es ist eben auch eine Götter-, eine Symbolmalerei«3.
Die Formen also werden stilisiert, weil die Gegenstände der Gegenwart nicht nur fremd
sind, sondern weil man hinter die Erkenntnis der Aufklärung von ihrem geschichtlichen
Vergangensein nicht mehr zurück kann. Vischer hält das Wiederaufgreifen dieser Stoffe für
Wiederbelebungsversuche an einer Leiche, die die Vergeblichkeit des eigenen Tuns in der
Stilisierung indirekt auch deutlich werden lassen. Tagespolitisch betrachtet war Vischer im
Recht, und wir sehen durchaus auch heute noch Münchner und Nazarener-Kunst mit
Vischers Augen. Was wir gemeinhin nicht sehen, ebensowenig wie Vischer selbst es sah,
sind die besonderen Qualitäten des beklagten Stilisierungsprozesses und seine Bedeutung
für den weiteren Fortgang der Kunst des 19. Jahrhunderts. Dieser Dimension soll im fol-
genden unser besonderes Augenmerk gelten. Einen wichtigen Hinweis hierauf gibt,
nolens volens, Vischer selbst. An verschiedenen Stellen deutet er wenigstens indirekt an,
daß Stilisierung symbolisch-allegorische Potenz freisetzt. Stilisierung verweist; es fragt
sich nur, worauf. Vischer kritisiert die Inhalte, auf die Stilisierung Anwendung findet, er
sieht Stilisierung als notwendige Folge der Wiederverwendung vergangener Inhalte. Man
kann das, so sei vorab behauptet, auch umgekehrt sehen.
Stilisierung könnte das bewußt gewählte Verfahren sein, Geschichte zu reflektieren, im
Sinne der Romantik zu kritisieren und wäre damit, Vischer zum Trotz, alles andere als affir-
mativ. In der Stilisierung wäre Geschichte aufgehoben. Stilisieren könnte gar das den Er-

3 Friedrich Theodor Vischer, Die Abdankung Karls V. von Louis Gallait und der Kompromiß der
flandrischen Edeln von Carl de Biefve. Gedanken bei Betrachtung der beiden belgischen Bilder
(1844), in: ders., Kritische Gänge, hrsg. v. Robert Vischer, 2., verm. Aufl. München 1922, Bd. 5, S.
90f., 91f.; kommentierte Quellen zum Streit um die belgischen Bilder bei: Werner Busch, Kunst-
theorie und Malerei, in: Kunsttheorie und Malerei, Kunstwissenschaft, hrsg. v. Werner Busch und
Wolfgang Beyrodt ( = Kunsttheorie und Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts in Deutschland,
Texte und Dokumente, hrsg. v. Wolfgang Beyrodt, Ulrich Bischoff, Werner Busch und Harold
Hammer-Schenk), Bd. 1, Stuttgart 1982, S. 184-207. - Es soll hier nicht behauptet werden, das
Gegensatzpaar von stilisierter und realistischer Kunst sei eine Prägung der deutschen Kritik; im
Gegenteil: es findet sich, nicht ohne Widersprüchlichkeit verwendet, etwa bereits 1833 in Frank-
reich: in: Artiste 5, 1833, S. 129 heißt es zu Porträts von Ingres und Champmartin im Salon von
1833, sie zeigten »ressemblance materielle«, dagegen stilisiere und idealisiere die David-Schule,
so daß man dort im Porträt mehr von der Individualität des Künstlers als von der des Dargestellten
finde, s. Heinz Buddemeier, Panorama, Diorama, Photographie, Entstehung und Wirkung neuer
Medien im 19. Jahrhundert (= Theorie und Geschichte der Literatur und der Schönen Künste,
Texte und Abhandlungen, Bd. 7), München 1970, S. 60f.

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