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Busch, Werner
Die notwendige Arabeske: Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 1985

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https://doi.org/10.11588/diglit.52657#0013
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fahrungen der Gegenwart gegenüber adäquate Verhalten sein. Unser Thema könnte dann
lauten: Wirklichkeitsaneignung als Stilisierung. Nun wäre Vischer nicht Vischer, wenn er
dieses später, wiederum wenigstens ansatzweise, nicht bedacht hätte.
§ 532 seiner »Ästhetik« ist über weite Strecken der Definition des Begriffes »Stilisieren«
gewidmet: »Der Ausdruck Stilisieren«, heißt es da, »enthält daher bald ein Lob, bald einen
Tadel. ... Man bezeichnet damit eine Erhöhung der Formen ins Mächtige, Schwungvolle,
den Ausdruck des Individuellen streng Beschränkende des großen Stils... eine stilisierte
Figur in der Malerei ist eine solche, welche in der Zeichnung sich einer plastisch Strengern,
weniger individuellen Behandlung nähert. ... Man drückt durch das Wort Stilisieren eine
Idealität der Formenbehandlung aus, von der es fraglich ist, ob sie dieser Kunst, diesem
Kunstzweige zusage, ob sie nicht vielleicht in einem gewissen Sinne zu schön... nicht
wahrhaft schön sei. Die Entscheidung bleibt aber noch ausgestellt. Leop. Robert hat italie-
nischen Genrestoff im großen Stil des historischen Gemäldes behandelt, Goethe hat in
Herrmann und Dorothea die Idylle in den Stil des Epos gehoben.... Dies heißt Stilisieren
im edelsten und berechtigtsten Sinne des Worts. Dagegen haben die Meister der sog. histo-
rischen Landschaft zu viel stilisiert, d. h. in ihrer plastisch architektonischen Weise zu viel
von der individuellen Physiognomie der örtlichen Natur ausgelöscht, Michelangelo, Kar-
stens, Wächter haben in den Figuren das Malerische zu sehr plastisch stilisiert, in anderer
Weise R. Mengs«4. Im einzelnen mag man zu den hier erteilten Zensuren stehen, wie man
will, zweierlei ist wichtig: Stilisierung ist die bewußte Hebung eines Stoffes auf eine ihm an
sich, d. h. nach klassischen Gattungsnormen, nicht zustehende Stilhöhe. Diese Trans-
ponierung kann, Vischer begründet diese Feststellung nicht weiter, sinnvoll, aber auch
inadäquat sein. Nach dem Sinn dieser bewußten Diskrepanz aber wäre zu fragen, auch, wie
ihre dialektische Auflösung zu denken ist5. Warum, so fragt das erste Kapitel, kann die Ara-
beske, eine niedere, in dienender Funktion stehende Kunst-, eine bloße Ornamentform mit
höchstem Sinn befrachtet werden? Warum spricht man diesen Sinn über diesen Umweg
aus, kann ihn nur so aussprechen?
Doch was meint Wirklichkeitsaneignung in diesem Zusammenhang? Wir rekurrieren
hier nicht, wie man nach dem bisher Gesagten denken könnte, auf Vischers an Hegel
geschulten Wirklichkeitsbegriff. Vischers Ausformulierung der Forderung an die Kunst,
Wirklichkeit zeigen zu müssen, sagt über den direkten künstlerischen Prozeß der Wirklich-

4 Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, hrsg. v. Robert Vischer, 2.
Aufl. München 1922, Dritter Teil, Die Kunstlehre, S. 161,164,165. Vgl. ferner zu Vischers Stilisie-
rungsbegriff u. S. 299.
5 Für den von Vischer zitierten Asmus Jakob Carstens ist die Deutung dieses Phänomens jetzt in
drei eigenen Arbeiten versucht worden: W. B., Der sentimentalische Klassizismus bei Carstens,
Koch und Genelli, in: Kunst als Bedeutungsträger, Gedenkschrift für Günter Bandmann, hrsg. v.
Werner Busch, Reiner Haussherr und Eduard Trier, Berlin 1978, S. 317-343; W B., Akademie und
Autonomie, Asmus Jakob Carstens’ Auseinandersetzung mit der Berliner Akademie, in: Kat.
Ausst. Berlin zwischen 1789 und 1848, Facetten einer Epoche, Akademie der Künste, Berlin 1981,
S. 81-92; W. B., Die Akademie zwischen autonomer Zeichnung und Handwerksdesign, Zur Auf-
fassung der Linie und der Zeichen im 18. Jahrhundert, in: Ideal und Wirklichkeit der bildenden
Kunst im späten 18. Jahrhundert, hrsg. von Herbert Beck, Peter C. Boi, Eva Maek-Gerard ( -
Frankfurter Forschungen zur Kunst, Bd. 11), Berlin 1984, S. 177-192.

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