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Buttlar, Adrian von
Der englische Landsitz: 1715-1760 : Symbol eines liberalen Weltentwurfs — Mittenwald: Mäander, 1982

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https://doi.org/10.11588/diglit.61312#0169
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VI SINNEINHEIT UND SINNVERLUST

“Taste” und die Usurpation der Symbole
Seine Ganzheit gewinnt der Landsitz - wie gezeigt - nur noch in der Unästhetischen
Perzeption und der synthetischen Assoziation des subjektiven Bewußtseins, dem im
Akt der Hervorbringung ein ebensolches sinnkonstituierendes Bewußtsein entspricht:
„Überall, wo eine lebendige Synthese entsteht, bekommt das Ganze einen Wert, den
seine Elemente nicht besitzen.“795 Die künstlerische Synthese von heterogenen, bild-
haften Elementen muß, wo die überkommenen Regeln des vitruvianischen Architek-
tursystems und das traditionelle, von der Architektur bestimmte Verhältnis der
Kunstgattungen in Frage gestellt werden, äußerst labil sein. Es besteht die Gefahr der
unverstandenen Usurpation der künstlerischen Mittel, der bewußtlosen Nachahmung
und der Entdialektisierung des Gesamtkunstwerks: .. andererseits weiß man, daß die
Formen als solche vergehen, wenn einmal das Band verschwunden ist, das die Elemente
miteinander vereint .. ,“.796
Dieses Band der inneren Verbindung von Sinn und Form ist durch die ursprüngliche
Bedeutung des Geschmacksbegriffs (taste) in der Ästhetik des frühen 18. Jahrhunderts
gekennzeichnet. “Taste” wurde zwar zu einem Modebegriff797, indem er zum deskrip-
tiven Stilbegriff (in the Chinese taste) oder zur Kankierung eines gesellschaftlichen
Typus (the man of taste) verkümmern konnte. Ursprünglich aber meinte er die nicht
nur künstlerische Entäußerung des Subjekts als Ausdruck seiner ganzheitlichen
Individualität, die Objektivierung der inneren “moral beauty” in Handlungen und
Werken. Bei Shaftesbury war er das Produkt des “moral sense” als einer endogenen
menschlichen “capacity” und der durch rationales Urteil, Vergleich und Kritik ausge-
übten Kontrolle: Er ließ sich somit nicht in den Regeln einer positiven Ästhetik ver-
dinglichen. Die Freiheit war seine unabdingbare Voraussetzung. Zwar gibt es Vor-
bilder und Standards, aber sobald sich diese Standards verfestigen und “taste”
äußerlich definieren, kann eine Entfremdung vom “moral sense” eintreten, Geschmack
sich in sein Gegenteil verkehren - deshalb hat Shaftesbury nur wenige Werke der
Kunstgeschichte postiv hervorgehoben und beispielsweise auf die Festlegung von
bestimmten “models” für die neue englische Architektur verzichtet. Ihm geht es um
die ethischen Prinzipien in der Anatomie des Schaffens. “Taste” bezeichnet so in erster
Linie nicht das Resultat, sondern die Stimmigkeit in den Umständen des hervorbrin-
genden Aktes. In Anlehnung an Aristoteles betont er dieses dynamische, schöpferische
Moment: .. the beautifying not the beautified is the really beautiful.”798 So ist das
Resultat des Schöpferischen immer der korrumpierenden Fremdbestimmung oder
innerer Entfremdung ausgesetzt: “... taste ... is liable to corruption by fashion and
custom or wantonness of humour.”799
Im Gegensatz zur Einschätzung800, die aufgrund der fast beschwörenden Berufung
auf das vitruvianische System im England des frühen 18. Jahrhunderts nur ein “age of
discipline” sieht, das für alle Lebensbereiche unumstößliche Regeln (rules) aufgestellt
habe, muß gerade das Freiheitspostulat betont werden, auf dessen Basis sich “taste” als

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