Jedes ansehnlichere Denkmal, das aus dem verschütteten Schatzhause der hellenischen
Kunst an das Tageslicht tritt, pflegt auf uns einen doppelten Eindruck zu machen.
Es spricht uns an wie ein Altbekanntes, denn es begegnet uns dasselbe Gesetz der
Form, es wehet uns derselbe Hauch des Lebens an, welcher im Grossen wie im
Kleinen alle Schöpfungen der Hellenen durchdringt. Andererseits ist von allen Wer-
ken alter Kunst keines dem anderen gleich. Je gründlicher die antiken Bildwerke
oder die heiligen Bauwerke der Hellenen untersucht werden, desto mehr taucht aus
der scheinbaren Gleichförmigkeit die reichste Mannigfaltigkeit hervor, und selbst in
den untergeordneten Gattungen des Kunstbetriebes finden wir nirgends eine fabrik-
mässige Wiederholung. Die eigenthümliche Kraft des bildenden Geistes der Hellenen
offenbart sich gerade darin, dass er, ohne das Althergebrachte muthwillig zu ver-
lassen oder im Haschen nach Originalität Gesetz und Ueberlieferung zu verschmähen,
dennoch in unerschöpflicher Frische immer Neues hervorgebracht und der Natur gleich
Gesetz und Freiheit, Einheit und Mannigfaltigkeit zu verbinden gewusst hat.
Jenen zwiefachen Eindruck, der uns in das eigenthümliche Wesen griechischer
Kunst einführt, macht auch das Doppelbild eines unteritalischen Thongefässes; es ist
vor längerer Zeit in der Fontana'schen Sammlung in Triest für Gerhard abgezeichnet
worden, welcher es mir zur Herausgabe für die archäologische Decemberfeier freund-
lichst anvertraut hat1). Es sind zwei Darstellungen, die sich ihrer Gruppirung wie
dem Inhalte nach genau entsprechen. Das Lokal, in welchem die Handlung des
oberen Bildes gedacht werden soll, ist durch einen Lorbeerbaum angedeutet; er be-
zeichnet den Hain, in welchem der delphische Apollotempel lag, denselben Hain, von
dem noch jetzt ein Baum sich erhalten hat, dessen immergrüne Zweige benutzt wer-
den, an den christlichen Festen die Kapelle zu schmücken, welche sich oberhalb des
Apollinischen Heiligthums erhoben hat. Es ist also der delphische Tempelhof, auf
welchem ein breitköpfiger, bärtiger Satyr, geschwänzt und ziegenohrig, den aus dem
Heiligthume entwendeten Dreifuss forttragen will. Die Ringe zwischen den Füssen
desselben sind über der rechten Schulter des Satyrs angedeutet; der vordere King
aber, welcher einen Theil der Figur verdeckt haben würde, ist der freieren und kla-
1*
Kunst an das Tageslicht tritt, pflegt auf uns einen doppelten Eindruck zu machen.
Es spricht uns an wie ein Altbekanntes, denn es begegnet uns dasselbe Gesetz der
Form, es wehet uns derselbe Hauch des Lebens an, welcher im Grossen wie im
Kleinen alle Schöpfungen der Hellenen durchdringt. Andererseits ist von allen Wer-
ken alter Kunst keines dem anderen gleich. Je gründlicher die antiken Bildwerke
oder die heiligen Bauwerke der Hellenen untersucht werden, desto mehr taucht aus
der scheinbaren Gleichförmigkeit die reichste Mannigfaltigkeit hervor, und selbst in
den untergeordneten Gattungen des Kunstbetriebes finden wir nirgends eine fabrik-
mässige Wiederholung. Die eigenthümliche Kraft des bildenden Geistes der Hellenen
offenbart sich gerade darin, dass er, ohne das Althergebrachte muthwillig zu ver-
lassen oder im Haschen nach Originalität Gesetz und Ueberlieferung zu verschmähen,
dennoch in unerschöpflicher Frische immer Neues hervorgebracht und der Natur gleich
Gesetz und Freiheit, Einheit und Mannigfaltigkeit zu verbinden gewusst hat.
Jenen zwiefachen Eindruck, der uns in das eigenthümliche Wesen griechischer
Kunst einführt, macht auch das Doppelbild eines unteritalischen Thongefässes; es ist
vor längerer Zeit in der Fontana'schen Sammlung in Triest für Gerhard abgezeichnet
worden, welcher es mir zur Herausgabe für die archäologische Decemberfeier freund-
lichst anvertraut hat1). Es sind zwei Darstellungen, die sich ihrer Gruppirung wie
dem Inhalte nach genau entsprechen. Das Lokal, in welchem die Handlung des
oberen Bildes gedacht werden soll, ist durch einen Lorbeerbaum angedeutet; er be-
zeichnet den Hain, in welchem der delphische Apollotempel lag, denselben Hain, von
dem noch jetzt ein Baum sich erhalten hat, dessen immergrüne Zweige benutzt wer-
den, an den christlichen Festen die Kapelle zu schmücken, welche sich oberhalb des
Apollinischen Heiligthums erhoben hat. Es ist also der delphische Tempelhof, auf
welchem ein breitköpfiger, bärtiger Satyr, geschwänzt und ziegenohrig, den aus dem
Heiligthume entwendeten Dreifuss forttragen will. Die Ringe zwischen den Füssen
desselben sind über der rechten Schulter des Satyrs angedeutet; der vordere King
aber, welcher einen Theil der Figur verdeckt haben würde, ist der freieren und kla-
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