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Carrière, Moriz
Die Kunst im Zusammenhang der Culturentwickelung und die Ideale der Menschheit: [ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes] (Band 2): Hellas und Rom in Religion und Weisheit, Dichtung und Kunst: ein Beitrag zur Geschichte des menschlichen Geistes — Leipzig, 1872

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https://doi.org/10.11588/diglit.33535#0026
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Hellas.

Karl Snell. Im Kindesalter der Menschheit sehen wir ein Ueber-
gewicht der Natur über den Geist, äußere Einflüsse und Be-
dingungen prägen sich im Volkscharakter beherrschend ab; eine
spätere reife Bildung der Innerlichkeit, der Gedankenwelt zieht
sich leicht auf sich selbst zurück und geht in gemachten Verhältnissen
der Naturfrische verlustig; in Griechenland haben wir die ur-
sprüngliche Harmonie des Sinnlichen und Geistigen und die Seele
wird in der schönen Leiblichkeit offenbar. Der Grieche bearbeitet
die Erde und ihre Erzeugnisse; er ist dadurch auf die Mitwirkung
und auf den Verkehr der Gesellschaft hiugewieseu, die ihm die
Befriedigung seiner Bedürfnisse und seiner Genüsse gewährt. Er
raubt sich nicht blos die Früchte welche der Boden trägt, sondern
zieht und pflegt sich dieselben, und formt den Stoff nach seinem
Sinn und feinem Zweck. Er gibt der Natur das Gepräge der
Cultur, aber noch ohne jene weitschichtige Vermittelung der Neuzeit,
die den einzelnen in der Stube der Fabrik nur Stücke, nicht ein
Ganzes gestalten läßt; die Thätigkeit bewegt sich im Freien und
die Persönlichkeit hat arbeitend das Ganze im Auge und freut
sich ihres erfinderischen Geschicks in der Ausführung.
Die Hellenen sind die künstlerisch begabtesten Arier. Der
grüblerische Tiefsinn, die schwärmerische Phantastik des Indiers
entbehrte der Freude an der Gegenwart, des Sinnes für die
Wirklichkeit, der nun maßvoll und klar aufgeht; aber die männliche
Thatkraft wendet sich nicht so ausschließlich auf Recht, Staat und
Herrscherthum wie in Rom, sondern sucht im Kriege die Muße
des Friedens für die Werke der Kunst und Wissenschaft. Die
persönliche Selbständigkeit, die Innigkeit des Gemüths ist größer
im Germanenthum, aber die Entwickelung auch eine viel lang-
samere, und wie die ebenfalls vorzugsweise aufs Ethische gerichte-
ten Perser ihren Bildungsgang unter assyrischen, griechischen,
muhammedanischen Einflüssen vollziehen, so kommt auch unsere
Eigentümlichkeit erst in der Verschmelzung mit dem Christenthum,
unter der Einwirkung des classischen AlterthumS nach dem Vor-
gang der Griechen zur Blüte. Ihr reicher Geist verschließt sich
der Fremde nicht, aber er entfaltet sich auf originale Weise und
macht das Gegebene zum Stofs und Element seines eigenen Lebens,
gibt ihm die Form seines eigenen Organismus.
Vom Begriff des Naturideals aus erschließt sich uns das
Verständniß des Hellenenthums: es ist die Naturgestalt des Geistes
in ihrer Vollendung. Der Grieche versinnlicht sich das Ideal, und
 
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