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Arthur Eloesser: Tolstoj

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der Familie eines Patriarchen nicht schöner sind als andere
häusliche Szenen, endlich diesen letzten Entschluß findet,
so wird er wahrscheinlich durch ein Vorgefühl des Todes
fortgeführt, durch eine Losgelöstheit freigemacht, in der
lange geübte Rücksichten auf einst geliebte Menschen
endlich vergehen. SeineFlucht scheint eine Tat der Eupho-
rie, einer letzten Gehobenheit, die der tödlichen Krankheit
vorausgeht. Auf einer kleinen Bahnstation muß die Reise
des Erkrankten unterbrochen werden. Die treue Tochter
Tatjana, die einzige Tolstojanerin der Familie, ist bei
ihm, die zürnende Frau folgt ihm mit den Söhnen, die
nicht an ihn glauben, und sie wird nicht vorgelassen.
Ganz Rußland will den Mann sterben sehen, der in ein
bulgarisches Kloster fliehen wollte, wenn er überhaupt
ein Ziel dieser Reise wußte. Journalisten und Photographen
belagern das Sterbehaus, ein Bischof versucht die Seele
oder wenigstens den Namen Tolstojs für die Kirche zu
retten. Der Staat läßt alle Stationen besetzen, die der Zug
mit der Leiche berühren wird, und teilt scharfe Patronen
aus, um Unruhen vorzubeugen. Bauern beten an seinem
Grabe, wie sie später an dem von Lenin beten. Es ist eine
merkwürdige Pilgerschaft eines Sterbenden, mit Ärzten
und Advokaten, mit verheimlichten Testamenten, mit
Intrige und Eifersucht, mit viel Familienmisere, es ist
eine Legende nicht ohne groteske Züge, weil auch an
diesem Bekenner noch soviel von der gehaßten Zivilisation
hängt. Groß ist seine Aufrichtigkeit, erschütternd die
Menschlichkeit, die ihn noch mit soviel Rücksichten
bindet, so daß die Flucht aus der Welt ihm erst gelingt,
da sie sich als die wahre, die unwiderrufliche beweist.
Goethe sagt, daß von dem großen Menschen die Gestalt
 
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