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Christliches Kunstblatt für Kirche, Schule u. Haus — 13.1871

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Nro 5 (1. Mai 1871)
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https://doi.org/10.11588/diglit.24476#0086
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Typen, sondern aus dem reichsten Born, der originalsten Phantasie geschöpfte,
durch und durch charakteristische Einzelbilder, deren jedes lebensfähig ist, auch
wenn es aus der Totalität des großen Zusammenhanges herausgelöst würde, und
deren jedes doch wiederum der Einheit des Ganzen sich einordnend, dem Ausdruck
jenes Hauptgedankens dient: Jerusalem ist gefallen.
Und vertieft man sich weiter in das Detail, welche Fülle von Schönheit
strömt uns da entgegen. — Die vollendete Schönheit der Linien in den Gestalten
und in der Gewandung gemahnt an Rafaelische Schöpfungen. Wir heben die
knieende Weibesgestalt zur Rechten des Hochaltars hervor, welche ein Krieger zu
Roß mit sich fortzuschleppen bemüht ist; sie erinnert, so originell sie empfunden
und geschaffen ist, an die herrliche Frauengestalt im Brand des Vatican von
Rafael. Wie schön die Gruppe der sich angstvoll umschlingenden Weiber links
vom Hochaltar, die im Vordergründe hingegossenen Gewandfiguren, der den aus-
ziehenden Christen voranschreitende psalmensingende Knabe mit dem Ausdruck
himmlischer reinster Andacht. Doch in der Gruppe ist alles höchste Poesie und
Schönheit.
Daß der Künstler die ihr Kind opfernde Mutter darstellt, nicht nach der
unseligen That, sondern während des verzwciflungsvollen inneren Kampfes, welcher
der Ausführung vorauf ging, das konnte er dem Timomachus von Byzanz abge-
lernt haben, dessen im Alterthum vielbewunderte Medea den Moment vor dem
Kindesmord zeigte, welcher den Beschauer die Handlung mit der ganzen Scala
ihrer furchtbaren Empfindungen selbst durchlaufen läßt und so in athemloser
Spannung erhält, — nicht die empörende That selbst; diese ließe nichts übrig
als die Empfindung des Grauens und Entsetzens. Wenn das zurückbäumende
Roß des Titus den Einzug der Sieger auf einen Moment zu hemmen scheint,
so liegt die Schönheit der Auffassung nicht allein darin, daß selbst das Thier von
deni großartigen Schauspiel berührt zu werden scheint, sondern auch darin, daß
mit dem Stillstand der Handlung unwillkürlich auch dein Beschauer selbst gleichsam
ein Standpunkt gegeben wird, mit dem kaiserlichen Sieger auf jenem Roß die
Scene zu betrachten. — So wird, wenn in der Gruppe der ausziehenden Christen-
familie die Eselin sich Zeit nimmt, von den Disteln am Wege zu naschen, durch
diesen anscheinend so unbedeutenden Zug nicht nur das Bild der friedlichsten Idylle
inmitten aller Schrecken der Zerstörung erhöht, sondern auch hier ein retardirendes
Moment in die Handlung hineingebracht, welches zu um so behaglicherem Genuß
der unvergleichlichen Gruppe auffordert, — etwa wie Göthe am Schluß von
' Hermann und Dorothea in der Verlobungssccne die Handlung einen Moment anhält:
und zog ihm vom Finger den Trauring,
(nicht so leicht; er war vom rundlichen Gliede gehalten) —
damit das Auge des Lesers bei dieser Gruppe noch etwas verweile.
Und null die wirkungsreichen Kontraste, welche zugleich auf die meisterhafte,
tief durchdachte Architektonik der ganzen Composition führen. In der oberen Reihe
der Einzug der siegreichen Römer, aber nur der erste Moment desselben, gegenüber
der Rückzug der bezwungenen Juden, aber nicht ihre völlige Vernichtung; — so
ist das Resultat mit Klarheit hingestellt, aber auch zugleich ein Blick in das Vorher
 
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