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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 12.1920

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Heft 4
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Däubler, Theodor: Chagall
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https://doi.org/10.11588/diglit.27227#0161

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C i) a 9 Q 1 1 Mit 9 Abbildungen / Von THEODOR DÄUBLEH
Dem jungen, ruf[ifd)en Juden Marc Chagall kam es in [einer ßeimat nid)t be-
[onders auf Qualitätsmalerei an. Er wollte das eigne Naturell ganz erleben:
[eine [cßöne, durchaus urfprünglicße Begabung forderte dramatifcße Vorgänge,
Gegenftändlicßes mit fymbolifcßer Bedeutung. Er war vor allem ein wild Begeifterter!
3uerft gebärdete er [ich übrigens recht naturaliftifcß: damals intereffierte ißn tagtäglicßes
Gezänk unter Eheleuten. Die Häßlichkeit eines Familienmorgens. Einmal wird ißm ein
[cßmufeiger Bauernkamm zum Höhepunkt, zum Symbol eines fehr draftifchen Bildes.
Man fpürt da, angefichts der verworrnen Haare der Hausmutter, gradezu auch Übel-
luft durch Betten und verfcßloffne Fenfter. Kurz: Naturalismus! Äber nicht in grellen
Farben: in finnbildlichen! Gegenftände, wie in diefem Fall der Kamm, in die Strähne
des hadernden Fleibes, find auf folchen Kompofitionen in oder über den Mittelpunkt
des Bildes geftellt. Etwa wie man [agt: „Kinder kauft Kämme, es kommen läufige
feiten!“ Ordinäres Rot, fchmutjiges Grau, alltägliches Blau beßerrfcßen in diefem Bild
die Skala. Solche Farben find fchwer zu harmonifieren. Sie fcßlagen aufeinander los,
bleiben zänkifch, fogar wüft ausfallend. Ein plebejifches Rot oder gar Viola wirkt wie
eine ßingeworfne 3ote, wie ein Fluch! Gleichgültig, obs die Farbe eines Halstuches
oder einer Schürze ift; oder auch eines verkramten bunten Fafcßentucßes, das bloß
die Betrachter des Bildes fet)en, die Dargeftellten jedoch augenblicklich nicht vermiffen.
Aber folche Geheimniskrämerei muß man bei einem Chagall vorausfetzen. Vielleicht
[agt ihm [ogar [ein Inftinkt: rote 3'Pfel find vulgäre Sticheleien, rote Halsbinden Auf-
[cßreie wirklichen Entfetztfeins. Viola Schürzen 3oten, viola Kopfputz Gottesläfterungen.
Alfo zuerft tobt [ich Chagall aus.
Dann, noch in Rußland, wird er rafcß viel poetifcßer, plötzlich ein myftifcher Ge-
walten Seine Entwicklung muß überhaupt blitzartig genannt werden. Für diefen
Augenblick in [einem Aufftieg will ich nun die [ogenannte „Kleine Geburt“ befcßreiben.
Eigentlich zwei Bilder: ein hochrotes ßieratifcßes und ein naturaliftifch-anekdotifches in
Ölgelb. Sie gehören, ohne eine Spur von fugenartiger Farbendurchdringung, unweiger-
lich zufammen. Geiftig erhärtet der rote Feil den gelben, und der anekdotifche wieder
erläutert, bewegt dramatifiert, den ßieratifcßen. Alfo: eine kühnfte Jünglingstat! Die
Vorgänge auf diefer „Kleinen Geburt“ find etwa folgendermaßen zu deuten: in
[cßweren Geburtsweßen liegt, aufgedeckt (bitte nicht nackt), eine Gebärende. Noch hat
[ie in ißrem Leib zerreißende Krämpfe; das Kind ift aber trotzdem fcßon da. Krebsrot.
Geburtsrot. CCIie man will! Schmerzgekrümmt auch der Balg: jedoch ins Übergewöhn-
liche vergrößert, gefteigert. Man denkt an ein Sternbild. An etwas ürdämonifcßes.
Über die Mutter erhoben, ßälts die Hebamme oftentativ dem Befcßauer zu. (Ich [age
„zu“, weil „entgegen“ nicht entfpricht: des andern Sinnes von „hält zu“, bin ich mir
bewußt.) Friumpßierend! Die Geburt war furchtbar fchwer, nötige Kunftgriffe mußten
gemacht werden: [ie find gelungen, ünd die Hebamme fießt fybillinifcß aus. Sie tritt
aus einem bäurifcßen Himmelbett, größer als der Vorhang es erlaubt, hervor. (Das ift
unlogifcß, dadurch ergibt [ich aber das Hieratifcße!) Sie wird wirklich zu einer Parze.
Mytßifcß. Die rote Himmelbettgardine kann wie Purpur ausfeßen: [ie wird zu einem
Baldacßin. Ein ßoßes kosmifcßes Ereignis hat [icß abgefpielt. Nun die andre Seite:
der Mann und Vater, die Vettern, Bekannte eilen herbei. Man ßat von der Geburt
geßört. Sogar durchs Fenfter guckt jemand ins 3immer. Man tritt leife auf: und zwar
bei ausgezeichnet durchgeführter, faft noch impreffioniftifcß gemalter Petroleumbeleucß-

Der Cicerone, XII. Jafyrg., Fjeft 4

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