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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 12.1920

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Heft 23
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Schmidt, P. F.: Max Beckmanns "Hölle"
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https://doi.org/10.11588/diglit.27227#0891

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Von P. F. SCHMIDT
Mit 4 Abbildungen

Max Beckmanns „Bolle“

Der erfte Eindruck diefer zel)n Blätter von Beckmann — feßr große, feßr gegen-
ftändlicße Lithographien — ift der eines furchtbaren Schreckens. So fieht es alfo
in Deutfchland aus, fo fpiegelt [ich die <[üelt Mitteleuropas in einem klaren und
unbarmherzigen Künftlerhirn! Geiftige Verwüftung, Grauen, Boffnungsleere als Saldo
der Kriegs- und Revolutionszeit, Krüppel und moralifcß Defekte als Erben der „großen
3eit“: Das ift Deutfchland. Der Eindruck eines Berliner Aufenthaltes im März vorigen
Jahres hat künftlerifcß diefen Niederfcßlag gefunden; und kein Name paßt dafür beffer
als „Bolle“. In folcß einer Bolle leben wir; wir fpüren es nur nicht; alle Qual und
alle Verzweiflung unferes 3u[taades haben wir auf des Künftlers Gewiffen abgewälzt;
er trägt, als Prophet und ÜJaßrfager der 3^it, unfere Bürde, er fpricht aus, was uns
der Sinn und Cüaßnfinn des Alltags im Berzen verborgen hält.
(Held) ein Leiden und welch eine Erlöfung! Es muß ein fcßrecklicßer Peffimismus
gewefen fein, der Beckmann in jenen Cüocßen überfiel, und ein übermenfcßliches Ringen
gehörte dazu, ihn in eine Form überzuführen, deren Gewalt die Schwärze jener
Empfindung entfpracß.
ünd um diefe Form handelt es fiel) hier, denn nur fie ift das Inftrument, das un-
erträglich Scheinende aus der Empfindung des Künftlers in die unfere überzuleiten,
ülas Üdarnungsfcßrei fcheint, was wie Literatur und graphifche Programmufik eines
leidenfchaftlich um fein Volk Beforgten ausfieht: leßten Endes ift es Angelegenheit der
Kunft. Nur weil es ganz in graphifche Form eingetaucht ift, weil eine faft übermächtige
Gewalt der Linie uns aus diefen Blättern überfällt und feffelt, darum wirkt es fo gegen-
ftandhaft, fo aufreizend aktuell. Der Äftl)et mag fiel) mit Abfcßeu von diefen Blättern
wenden und naferümpfend von Cendenz reden: fie find zu einem fo lauten und un-
bedingten Ausdruck unferes 3^itempfindens geworden, weil diefes fiel) hier feine adä-
guate Form gefd)affen hat.
Man möge mich nicht mißverftehen. Ich bin der Leßte, der abftrakter Malerei ihren
Sinn abfpräche; noch die äußerften Verfucße eines Scßwitters, Schlemmer oder Klee
finden bereitwilliges Ecßo in mir. Es heißt aber den Geift der 3eit verkennen, wenn
man in der Gegenftandsform Beckmanns nicht ein Gefäß erblicken kann, in dem die
fabelhaften Kräfte einer cßaotifcßen Gegenwart (und 3ubunft) eine ßöcßfte Steigerung
und Verklärung erleben. Prinzipiell muß einmal feftgeftellt werden, daß der Künftler
das Recht und, wenn er Mut und Charakter genug befißt, aueß die Verpßicßtung hat,
deutlich und draftifcß auszufagen, was ift und warum es ift; daß er nießt verbunden
ift, mit gefcßloffenen Augen an den wilden und gefährlichen Erfcßeinungen von 1919
und 1920 vorüberzugeßen. (Denn fein Geift ißn treibt, lieblichere Vifionen zu fueßen
und uns mit einem göttlichen Craumlande zu tröften und über Dunkelheiten des Dafeins
ßinwegzußelfen, fo feien wir ißm dankbar. Aber es gibt viele öCIege im Paradiefe der
Kunft, und wer uns mit graufamer Deutlichkeit einen Spiegel vorßält, vor deffen 3ßrr-
bild wir zurückfcßaudern, kann vielleicht der größere Vifionär fein, weil er der leid-
vollere ift und den Dingen auf den düfteren und tragifeßen Grund blickt, aus dem alles
Leben erwäcßft.
Denn diefe Blätter find Vifionen kraft der umbildenden Geftaltung eines großen
Künftlers. Mag der Anlaß in noch) fo banaler und graufiger (Xlirklicßkeit wurzeln;
mag er uns an den armen Ofcß einer hungernden Familie füßren, oder in die Ver-

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