Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 15.1923

DOI Heft:
Heft 10
DOI Artikel:
Biermann, Georg: Vincents Schicksal
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.39945#0489

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Vincents S d) i ck f a 1

Von GEORG BIERMANN
Mit einer Tafel

ür den, der über die Kunft der Gegenwart fcßreibt, ift es ein reizvoller Gedanke,


[id) vorzuftellen, wie etwa naeß hundert Jahren eine neue Menfcßßeit unfere Ur-

teile werten, unfere Gefühle nacßkontrollieren wird. Sicher verfinkt nocß im Ab-
lauf kommender Jaßrzeßnte vieles von dem, was ßeute in uns Begeiferung weckt;
ficfer liegen viele Leichen derjenigen am dege, die uns ßeute nod) mit ißrem Fjerz-
blute den Glauben an unfer Sein vermitteln. Jede 3eit ßat ißre Götter und muß fle
ßaben. Mag die nachfolgende pe dann aucß verneinen, fo find pe dennod) mcßt um-
fonft gewefen. — Nur aus den großen Irrtümern heraus erfteßt die daßrßeit, nur aus
der Liebe zu dem, was uns zeitlich) berührt, wäcßft Ewigkeit.
Dies ift das Scßickfal der Kunft und der Künftler, daß fie dem Ablauf des Ge-
fcßeßens den Akkord geben, dies letzter Sinn aller produktiven Kräfte und Ideen, daß
fle einmal zum Sterben kommen. Aber diefes Sterben ift kein Cotfein, vielmehr ein
Verfinken im Dämmerzuftand des Craumes. All die Geftorbenen keßren wieder, wie
der Geift, Gottes unfterblicßes Gefäß, in Sternenwelten fcßwebt, um aus Fjieroglypßen
und ßalb verfunkenen Denkmalen uralter Kulturen neues Ließt in die Menfcßßeit zu tragen.
Immer entzündet ficß eine Generation innerlich an dem, was angeblich längft vergangen
ift; von irgendwoher belichten unferen Uleg die Straßlen verfunkener Scßönßeit, die
Funken ferner Geifteskräfte, die einmal Religionen geboren, Völker getroffen, Erdteile
in Bewegung gebracht haben. — Ein Nichts find wir, ift unfere 3eit, gemeffen am
Fluß der Ewigkeit. — Und doch ift jede Liebe, die wir einer Cat entgegenbringen,
einem Gedanken oder einer Ulefenßeit, ob Menfch oder Kunftwerk, Emanation des
Göttlichen in uns; und ßat eine 3eit als Prototyp ißres Leidens und ißrer Seßnfucßt,
ein Bild oder ein noeß fo tragifeßes Gefcßick vor Augen, dem fie opfernd nacßlebt,
dann ift fie innerlich — fo feßr dem aucß die äußeren Momente auf dem Sekunden-
zeiger der Uleltenußr widerfpreeßen mögen — irgendwie und an einem Punkte dem
göttlichen Fatum vermählt.
Ulir denken, indem wir dies hier fagen, an das Scßickfal van Gogßs. Noch fteßt
fein Menfcßentum zu feßr im Brennfpiegel unferer Reflexionen, noeß wagt ficß der Ge-
danke nicht vor, daß diefer, ad) fo ordinäre Ablauf eines Lebens, für das man das
billige Beiwort „tragifcß“ viel zu rafcß zur Fjand ßat, in Ulirklicßkeit Manifeftation
eines typifeßen Menfcßenfcßickfals ift, das äßnlicß anderen, die Gefcßicßte machten,
Opferung war. Nicßt daß dies Leben einmal in der ganzen Graufamkeit feiner Ent-
ladung befanden ßat, ift wertvoll zu wiffen, fondern daß aus diefem Vincent-Roman
pcß eine Catfache entwickelte, die mit der Melodie der Farben ein neues Evangelium
über die dielt getragen ßat, das wortlos und ftumm, die Cßriftusmale diesfeitiger Ver-
zweif ung und die jauchzende Sonne der Ewigkeit in die daßinpnkende weftlicße 3ivi~
lifation ßineintrug. Vincents Kunft ift — was vielleicht erft nachfolgende Generationen
der ganzen Bedeutung naeß empfinden können—ein Gipfel letjter Erfüllung, die nur noch
Cod und Abkeßr von allem Irdifcßen fein konnte, ift die durch Sonnenlicht aus ßalb ver-
dorrtem Scßädel emporfteigende 3eugung einer dielt von ewigem Sein, die, ange-
klammert an das, was optifcß diefen Augenfternen faßbar feßien, aus dem Jenfeits er-
füßlt und mit hingemauerten zuckenden Pinfelftricßen der dielt ein neues Ließt ent-
gegentrug, das nun in vielen Jaßrzeßnten nidßt meßr verlöfcßen kann.
Diefe Kunft in Parallele zu fonftigem 3e^9enöffifcßen zu feilen, ift Blasphemie,
mag ßeute aucß Vergleich an ficß uoeß fo feßr verlocken. Kunfttßeoretifcßer Kalkül
(man denke an Cezanne, der immer nur mit dem Geßirn feßuf) verfagt vollkommen.
Man löfe feß desßalb einmal aus der engen zeitlich begrenzten Bindung und überdenke
das, was naeß Jaßrßunderten vielleicht fein könnte. Diefen 3^iten wird van Gogß erft

465
 
Annotationen