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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 15.1923

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Heft 24
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Studien und Forschungen
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Stange, Alfred: Kunstgeschichte und Kultursoziologie
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https://doi.org/10.11588/diglit.39945#1174

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Studien und Forfcßungen

werden kann oder muß. Stellt ficb demnach
als Hufgabe der Kunftgefchicßte dar, die Ent-
faltung der Stile und ißre Hufeinanderfolge,
d. ß. den Klandel des künftlerifcben Sehens
(Renaiffance, Barock, Rokoko) immanent mit
den ibr eigenen Begriffen verfteben zu laffen,
fo wird demgegenüber die Kulturfoziologie in
bezug auf die Kunft einer Epocbe fragen, wie
aus deren fozialer Struktur diefe Kunft und ibr
Stil verftändlicb ift. Natürlich erbeilt fie nicbt
den äftbetifcben Sinn: das ift ausfcbließlidje Huf-
gabe der Kunftgefcbicbte, fondern pe kann nur
fagen, inwiefern in den gefellfcbaftlicben Ver-
bältniffen Vorausfeßungen und Bedingungen für
die Realifation einer Form enthalten, wo die
Möglichkeiten für einen neuen Stil gegeben waren.
Nicht verwecbfelt darf diefe Betracbtungsweife
mit der materialiftifcben Gefcßicbtsforfcbung wer-
den. Der ünterfcbied zeigt pcb vor allem in der
Hrt, wie Lederer die Beziehungen zwifcben fo-
zialem Untergrund und kulturellem Überbau an-
nimmt, und was er unter diefem Untergrund
verftebt. Diefer ftellt pcb ihm nicht ailein in
den ökonomifcben Verßältnißen dar, was mit
dem Gedanken einer unbedingten Kaufalität ver-
bunden zum bißorifcben Materialismus führen
würde, fondern in der Husdeutung aller gefell-
fcbaftlicben und Produktionsverbältniffe als gei-
ftige Fjaltung einer Menfcbengruppe. Nur diefe
Huffaffung kommt beute in Frage, die den fo-
ziaien Habitus ausdeutend ais Grform, als all—
gemeinfte Cbarakteriftik einer 3eit — und darum
von Bedeutung für ihre ge>ftig-künftlerifcben
Leipungen — faßt. Der Begriff der Produktions-
verbältniffe muß zum „3eitubegriff erweitert
werden, indem er jene elementaren Lebens-
tatfacben fcbon in ficb fcbließt, die die Kultur-
objektivationen, die Kunft, in ihrer Hrt mit leßter
Gültigkeit offenbaren. Cüas weiter die Faffung
der Beziehungen anbetrifft, fo beftebt die Mög-
lichkeit — und pe ift beute febr beliebt — nur
den in den gefellfcbaftlicben Verbältniffen wir-
kenden „3eitgeift“ als primär vorauszufeßen und
allgemein wirkend anzunebmen, das Verhältnis
des fozialen Untergrundes zu den Kulturobjek-
tivationen aber als irrelevant zu betrachten —
diefe Hrt wird ftets zum Spiel mit Phantomen
führen — oder aber mit der Kulturfoziologie reale
Fäden und Bedingtheiten anzunebmen. Dem-
nach wären in den allgemeinen gefellfcbaftlicben
Verbältniffen primäre Lebenscbarakteriftika ge-
geben, die die Form der künftlerifcben Leiftungen
ermöglichen oder beftimmen. Natürlich find diefe
Beziehungen keine feftftebenden. Eine fcßema-
tifcbe Beziehung zwifcben foziologifcbem Subftrat
und künftlerifcber Objektivation lehnt Lederer
ab, denn für jede Epoche und für jede kulturelle
Sphäre wird ein anderes Moment der fozialen
Verbältniffe wefentlicb Tein. Für Recht und Staat
werden die Beziehungen andere und pcßerlid)
auch unmittelbarere fein als für die Kunft, für

die die Immanenz ihrer Sphäre von größerer
Intenfität ift, aber dennoch wird auch für fie im
allgemeinften fozialen Fjabitus einer 3eit, in ihren
elementarften Lebenstatfacben, eine Beftimmung
liegen, wie der fcböpferifcbe Künftler pebt und
welches Motiv er wählt, je nach der Statik
oder Dynamik des Lebens, feinem ariftokratifcben
oder bürgerlichen Charakter wird Sehen und
Motivwaßl wecßfeln. Natürlich beßebt die Mög-
lichkeit, daß fid) die fozialen Verbältniffe mit
den immanenten künftlerifcben Entwicklungen
überfcbneiden, auf die Dauer fcbeinen Inkon-
gruenzen nicht möglich. Die Kunft wird ficb
den neuen fozialen Gegebenheiten anpaßen
müffen. Klo aber der kulturelle Überbau pcb
loslöft — wie beute —, da zeigt ficb, daß er
feine Gefcbloffenbeit und die Beftimmlßeit feiner
Hufgabe verliert, daß er artißifcb, und
daß andererfeits das Publikum desorientiert
wird.
Viele der Gedanken find aus den Schriften
Max und Alfred Klebers, Simmels und auf fpe-
ziell kunftbiftorifcbem Gebiete Klölßlins (Renaif-
fance und Barock, Grundbegriffe) geläupg, der
Klert diefes Huffaßes berußt in der metbodifcben
3ufammenfaffung und Klarftellung der 3iele einer
Klißenfcßaft, die entgegen den Einzelwiffen-
fcßaften bemüht iß, gewißermaßen von unten
her die Phänomene zu betrachten und verftänd-
licß zu machen. Für die Kunftgefcbichte liegt
feine Bedeutung einmal in der engeren (Imgren-
zung ihrer Aufgabe, au> der — will pe Kunft-
gefcbichte im eigentlicbften Sinne fein — alle
jene Betrachtungen ausgefcbieden bleiben, deren
Klerkzeuge nicht immanent find, zum anderen
darin, daß er auf die Klißenfcßaft und Methode
ßinweift, die befähigt find, jene Phänomene künft-
lerifcben Klerdens zu erhellen, die nicht aus der
Entwicklung künftlerifcber Ideen erklärbar find.
Die wicbtigfte Aufgabe der Kulturfoziologie
dürfte auf kunftbiftorifcbem Gebiete die Hus-
deutung der Stilbeginne fein, Antwort auf die
Frage zu geben, warum zu einem Cermin — um
1400 in Italien oder am Ende des 18. Jahr-
hunderts allgemein in Europa — die Künftler
anders zu feßen begannen, und warum fie fo
feßen konnten. Diefe Neuanfänge, die nie aus-
schließlich immanent erklärt werden können, felbft
wenn der neue Stil in feinem Ablauf fid) als
Löfung fcßon früher angeßrebter 3iele mit neuen
Mitteln darftellt, dürften im einzelnen und als
Problem eine Klärung erfahren, wenn an'Stelle
der jeßigen Übung der kulturbiftorifcßen Be-
trachtungen, denen meift die notwendige innere
Verknüpfung mit den künftlerifcben Ereignißen
mangelt, fyßematifcße kulturfoziologifcße ünter-
fucßungen treten. Vorausfeßung bleibt die mög-
licßft weite Faßung der fozialen Verßältniße,
fo daß z. B. im Mittelalter die Kirche, die Mönchs-
orden einbezogen werden, weiterhin die Berück-
ficßtigung möglicher Beeinßußungen von feiten

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