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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 16.1924

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Raphael, Max: Über Johann von Tscharner
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https://doi.org/10.11588/diglit.41564#0160

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über Johann von Cfdjarner

Von MAX RAPHAEL / Mit sechs
Abbildungen auf drei Tafeln

Still ift 3üricl) geworden, eine faubere Provinzftadt. Der internationale Betrieb ift
verfcl)wunden, aber aud) das intenfive Leben, das vor fed)s Jahren hier um Ge-
[taitung rang.
Cfcharners Atelier ift nicht ein aus dem bürgerlichen Leben herausgehobener Raum,
keine abftrakte Atmofphäre, die — durd) Willenskraft und Inteliektanfpannung ge-
fcßaffen — die höchften Augenblicke, die einfamften Ekftafen fefthält, während fid) das
Men fd)lich-Allzumen fd)licl)e irgendwo anders abfpielt. Man fpielt mit feinen Kindern,
man nimmt von feiner Frau den Dienft felbftverftändlicher Gaftfreundfcfyaft hin — ein
Schritt von diefem 3inimer, in dem man lebt, fpielt, plaudert und fchweigt, über die
Schwelle und man ift im Atelier. Die Bilder zeigen diefelbe Welt noch einmal . . .
Bürgerliche Idylle? Nachahmung? . . . Ganz gewiß nicht. In eine Umgebung hinein,
die um Gehalt und Form gebracht ift, fdßuf fiel) ein Künftler feine Hielt, in der Kunft
und Leben in fteter Wechselwirkung flehen, hier ift alles gezeugt und gewachfen und
wächft jeden Lag von neuem. Die Kunft ift die Frucht des Lebens und das Leben die
Wurzel der Kunft. Es gibt weder romantifche Pl)antafie noch kläglichen Alltag, fondern
Craum und Wirklichkeit ineinander gefchmolzen durd) lebendige, kontinuierlich fort-
zeugende künftlerifche Kräfte, hier wird im Leben nicht abgebrod)en, fortgeworfen
oder als Fremdkörper mitgefd)leppt; hier wird in der Kunft nicht der Stil wie ein Ge-
wand gewechfelt. jeder neue Cag nimmt die Kraft und die Formen des vorhergehenden
auf und bildet fie weiter. Jeder folgende Cag rechtfertigt die vorhergehenden, weil er
die Verantwortung für alles Gefd)el)ene trägt. Wenn diefes Ethos unzeitgemäß ift, fo
doch nur, weil wir den konftanten Formen des Geiftes foweit entfallen find.
Aus derfelben Quelle wie diefes Ethos muß das gefloffen fein, was ich als Kosmo-
logie des Pfyd)ifd)en auf den Bildern Cfcharners fo ftark empfinde. Die Menfchen ftehen
in einem Raum, der nicht nur ihre Körper umfaßt und felbft ein körperliches Gebilde ift,
fondern eine umfaffende feelifdße Atmofpl)äre wahrnehmbar macht, in der — ja aus
der die einzelnen Seelen als konkrete Beftimmtheiten leben. Die Individualität hat nicht
ihre Berechtigung verloren, aber fie ftel)t in einer Allheit, die durch Schwermut und
Eurhytl)mie zu charakterisieren wäre. Gebunden an diefen feeiifchen Kosmos, ift der
Einzelne frei gegen den andern und dod) bilden alle zufammen ein Ganzes. Cfcharner
komponiert keine Gruppe, erzwingt nid)t eine geftellte geometrifd)e Relation. Die Men-
fd)en ftehen nebeneinander, aber ein freier Rhythmus, der ßd)er und eindeutig ift, hält
fie zufammen. Freiheit in 3ufammeni)ängen fd)eint mir das treffendfte Merkmal diefer
Kunft. Id) kenne kaum eine andere moderne (außer der von de Fiori und Wolff), die
fo tßeorielos, fo ohne Abfid)t, fo organifcl) gewachfen ift. Nichts ift erzwungen und
vergewaltigt — weder der Gegenftand noch das innere Gefid)t, weder der Bildorganis-
rnus nod) die Einzelheit. Es führt ein hemmungslofer Weg von außen nach innen und
von innen wieder nach außen, vom Erlebnis zur Geftalt.
(Inter der warmen Empfindung, die von Cfcharners Bildern ausftrömt, erftaunte es
mid) auch diesmal, wie es ihm gelingt, die Klippen fowohl des Formalismus wie der
Inhaltlid)keit zu meiden. Erinnert man fid) vor feiner Malerei an die bedeutfamen und
„berühmten“ modernen Maler, fo gleichen die meiften Bierbankpolitikern, die alles und
jedes plakatieren, aber nichts im Wefen erfaßt haben. Sie find mehr oder weniger geift-
reid)e Journaliften oder Propagandaredner, die auf Koften der wed)felnden Stoffe reich
erfd)einen, während fie nur bunt und langweilig find. Cfcharners Malerei rul)t auf
dem Verzicht, das auszufprechen, was ihn nur reizt, auf dem Entfcßluß, nid)t wie eine
Mafcßine zu plappern, fondern lebendig zu formen. Er malt nicht aus Mitteilungs-
bedürfnis, fondern aus Geftaltungsdrang. Das was er zu fagen hat, ift nichts Citanifches.

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