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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 16.1924

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Sachs, Hans; Steinlen, Théophile-Alexandre [Gefeierte Pers.]: Théophile Alexandre Steinlen
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https://doi.org/10.11588/diglit.41564#0507

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O)eopt)ile Älexandre Steinlen

Steinlen ift in Ärmut geftorben. Diefer große 3eicßner, der in [einen zatjllofen Blät-
tern das Leben der Parifer Straßen unvergleichlich gefchildert hat, hinterläßt als
Reichtum [eines Schaffens 30 Francs zu [einem Begräbnis“ (Berliner Cageblatt vom
16. Dezember 1923).
Steigt nicht beim Überfliegen [o tiefgründigen Reporterwiffens fchemenhaft die Er-
innerung an einen anderen großen Loten des Montmartre in uns auf? Lafen wir nicht
den gleichen Stoßfeufzer vor 22 Jahren: „Loulouse-Lautrec ift in der Maison de sante
geftorben. Man mußte [ich die Koften für die Beerdigung diefes großen 3eidjners zu-
fammenbetteln“ ?. Kein wahres ttlort damals: Starb doch der Sproß des uralten Ge-
[chlecßts der Grafen von Loulouse, Herren des Älbigeois und der Vicomtes de Lautrec
auf Albi, dem Schlöffe [einer Väter, wo [eine Überrefte in dem lebten Grabe der ehr-
würdigen Familengruft feierlich beigefeßt wurden — aber es paßte beffer zu der
ganzen Perfönlichkeit Lautrecs, die, von unvertiefter, fchnellurteilender Journaliftenweis-
heit längft ihren Stempel „Karikaturift der Dirnen und Schalter, des Faßlichen und Ge-
meinen“ aufgedrückt bekommen hatte. Eilfertig ward auch den Manen Lheophile Älex-
andre Steinlens billiger Kleihrauch gefpendet, ward Mitleid wachgerufen, Rührfeliges
in alle Kielt gekabelt: „Nur wenig Getreue folgten dem Sarge, der langfam zum Pere-
Lachaise hinaus wankte, durch volksreiche Äußenquartiere, wo ein gefchäftiges Lreiben
herrfcht und wo die Mietskafernen ihre kalten Mauern zum Fjimmel recken, die der Stift
des Künftlers [o gerne als Folie für [eine Straßenfzenen wählte.“ Klas verfchlägt es,
daß öffentliche Anerkennung dem toten Meifter des Griffels freilich verfagt blieb, daß
weder Jean Ricßepin noch Maurice Donnay von der Akademie dem einftigen Kame-
raden vom „Chat noir“ das Geleite gaben, daß die Lrauerrede des früheren Minifters
und Deputierten Couyba — als Maurice Boukai vom gleichen „Chat noir“ tyer eben-
falls ein alter Bekannter — müde und farblos klang, daß das Schweigen eines Forain,
eines Klillette am Grabe Steinlens [einen wahren Verehrern peinliche Bedrückung fd)uf,
daß die geplante, aber [djeinbar [cßon wieder abgefagte Gedächtnisausftellung [einer
Klerke in der Galerie Äuber ihn auch nicht wieder zum Leben erwecken wird — um
fo mehr haben wir die Pflicht, uns mit einem Loten auseinanderzufe^en, deffen Lebens-
werk gerade in Deutfd)land von vielen geliebt und anerkannt wird, einem Coten, der
nationaliftifchem Rummel fern [tand, der, [oweit ich es überfeine, [einen 3eichen[tift
nur einmal feindfelig gegen uns gewendet hat, der als Künftler und Menfch gleicher-
maßen liebevolles Vertiefen verlangt.
Es gibt ein Selbftbildnis von Steinlen, das Roger Marx in der Vorrede des großen
Kataloges1 abgebildet ßat. Unter h°her Stirn treten zwei tiefliegende Äugen zurück,
die halb verfcßleiert erfcßeinen. Unter gerader Nafe ein fein gefcßwungener Mund, um
den wiffendes, trauerndes Lächeln [pielt, abgefchloffen vom blonden Spitjbart. Lrauer
und Men[d)lichkeit, Mitfühlen und Innigkeit, fchmerzlid)es Erkennen und F)üfsbereitfd)aft
blicken uns wärmend aus diefem Antlifej an. Klir durchblättern den Katalog. 3eich-
nungen und Lithographien, Mufiktitel und Plakate, Menukarten und Illuftrationen in
buntem Klechfel: Diefelbe gefchloffene, reiche Perfönlichkeit zieht uns in ihren Bann.
Die Äugen diefes Mannes haben die Liefen und Untiefen [einer 3eit durchdrungen und
feftgehalten, pe haben ihn tief berührt und [eine Leiden[d)aft aufgeftachelt; Leid und
Verfall, Not und Lrübfal haben künftlerifches Schauen in Mitleid, Miterleben in Liebe
gewandelt. Der verfonnene Blick dringt tief unter die Oberfläche und forfcht nach den
1 E. de Crauzat: L’oeuvre grave et lithograpßid de Steinlen. Paris 1913. Societe de propaga-
tion des livres d’art.

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