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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 17.1925

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Heft 7
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Fierens, Paul: Die junge Kunst in Belgien
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https://doi.org/10.11588/diglit.42040#0395

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fünfzehn Jahren ein halbes Dutzend von Künstlern sich in Laethem-Saint-
Martin, einem Dorfe bei Gent, um George Minne zusammenschlossen und eine
Richtung einschlugen, aus der ein eigener Stil oder vielmehr1 eine geistige Rich-
tung hervorging. Die Maler von Laethem bilden eine besondere Plejade, die
die Traditionen der Vorfahren bewahrt; von Natur schöpferisch begabt und
außerdem sehr indifferent gegen alles, was außerhalb ihres Kreises geschaffen
werden mag, haben sie die Kraft der absoluten Aufrichtigkeit für sich. Alle
verdanken sie George Minne die Offenbarung einer packend wahrhaftigen
Kunst, einer Spiritualität ohne Weichheit. Sie verdanken Albyn van den
Abeele, der in dieser Schule die Rolle des Zollbeamten Rousseau vertritt, das
Hochgefühl einer Art von „Empfängniszeit“, das sich mit der Reinheit der
Primitiven vergleichen läßt. Die unbedeutendsten Landschaften von van den
Abeele und seinen Epigonen Valerius de Saedeleer, Claeys, Saverys und
Boulez (dieser letztere ist aber auch ein vorzüglicher Figurenmaler) haben
etwas wahrhaft Intimes, etwas Innerliches und Religiöses.
Es gibt einen nördlichen Mystizismus, den von Maeterlinck und Charles van
Lerberghe, eine Fähigkeit, die sinnliche Welt als Zeichen und Zeugnis einer
Wirklichkeit zu betrachten, aber es gibt kein Verachten der Materie bei den
Flamen. Albert Servaes ist der größte katholische Maler in Flandern, im
Augenblick vielleicht der größte. Er hat die Wahrheit zur gleichen Zeit in der
Natur wie in seinem Glauben gesucht. Als er unter den flämischen Ernte-
arbeitern Motivstudien machte, studierte er die Gesten des Menschen und den
Rhythmus der Erde, aber in seinem Geiste gestaltete sich logisch, wahrhaftig
und ausdrucksvoll ein Werk, in dem die Materie sich mit der Seele versöhnt.
Man hat ihn mit den Spaniern und mit Grünewald verglichen. Vor allem be-
wundernswert ist die Einheit, der Reichtum und die innere Kraft seines Wer-
kes. Unzählige Studien von Bauern und Landschaften bereiten seine Apostel-
gestalten und seine berühmten Folgen: „Das Leben des Bauern“ und „Der
Weg des Kreuzes“ vor, dessen erste Fassung in Kohlezeichnung der Gegen-
stand heftiger und bedauerlicher Polemiken war. Heute ist Servaes mit Wand-
malerei beschäftigt und die wenigen Werke, die er eben für Holland ausgeführt
hat, haben einen Stil, der an nichts Bekanntes erinnert, höchstens an primi-
tive frühchristliche Malereien.
Wenn man dagegen die Manier von Gustave van de Woestyne mit einem
vornehmen Stammbaum ausstatten wollte, müßte man an Bruegel als seinen
Ahnherrn denken. Der moderne Zeichner hat das gute Gewissen des alten
Malers und etwas von seinem volkstümlichen, zum mindesten von seinem sati-
rischen Geist. Denn van de Woestyne ist ein melancholischer Dichter. Er
wandelt sich rasch, an Stelle von Virtuosität tritt bei ihm der Geist der Opfer-
freude, und seine Kompositionen sind nach den Regeln einer Geometrie ohne
starre Strenge organisiert. Selbst der Gedanke wird konzentrierter und geklärter.
Für Constant Permeke war der Aufenthalt in Laethem-Saint-Martin nur eine
Entwicklungsperiode, während der er als Zeichner stark unter dem Einfluß von
Servaes und von dem Radierer Jules de Bruycker stand. Während der letzten
Jahre hat er jedoch in Ostende nicht weit von James Ensor gearbeitet. Er ist
sich dabei ganz über sich klar geworden und hat es zum Meister in einer Tech-
nik von gewaltig pastosem Farbauftrag gebracht. Das Malerische im Leben der
Fischer und der Wellen übersieht er, um seinen tiefen Sinn zu erfassen. Da er
instinktiv konstruiert, so zieht er das „Bild“ der Studie vor und kommt damit
zu den allervernünftigsten Ideen. Er sucht nicht modern zu sein, er ist es un-
willkürlich, wie er auch ohne sein Wissen der großen flämischen Vergangen-
heit tributpflichtig bleibt. Permeke begnügt sich, den Weisungen eines edlen,

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