Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927
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Heft 7
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Kanoldt Stilleben
Aus der Ausstellung „Die neue Sachlichkeit“ der Galerie Neumann-Nierendorf, Berlin
Generationen. Nichts von „Erstarrung der
Entwicklung“, wie so gern behauptet wird,
nur Übergang von dynamisch vitalistischer
Einfühlungskomposition und -färbe in eine
abstraktmäßig statische Farbwelt und entspre-
chenden Bildbau. Die Farbe bis zuletzt, ge-
rade hier, in kristallischer Reinheit, weit aus-
greifend in der gehaltenen Spannung, zumeist
in männlich klarem Dur, den unerbittlichen,
heute notwendigen Lebensentscheidungen ent-
sprechend. (Reproduktionen lassen nichts von
dieser reinen, unverschwemmten Farbwelt
ahnen.)
Hierneben hat es Togores (bei Caspari)
schwer. Mild weibliches Lebensgefühl in blaß
irisierenden Graustufen. Er ist der neuen Ge-
genstandbetonung zugetan und im Gegensätze
zu Kandinsky zärtlich ins Dasein der realen
Außenwelt verliebt. Ich halte — im Gegen-
satz zur abstrakteren Malerei — diesen Schritt
für durchaus möglich. Ein Rückschritt
liegt aber vor, wenn, wie das noch
oft bei solcher Malerei der Fall, die
neuen, erweiternden Färb klänge,
wie sie sich etwa beim reifen Kandinsky fin-
den, ignoriert werden, als wäre nichts ge-
schehen. Wenn sie nicht Anwendung finden
auf eine neu zu sehende Gegenstandswelt, wird
die Gegenständlichkeit von Togores bald als
konventinell und reaktionär empfunden wer-
den. Er ist am reinsten in klassischen Weiber-
akten mit abfühlbarer Modellierung, wo er
Sanftmut und melodische Wohligkeit eines
Renoir in den neuen malerisch gehalteneren
Plastizität,sstil umsetzt, in der Farbe freilich
zusammengezogen auf die scheuen und wie ge-
hemmt aufblühenden Silbergrautöne.
Hiergegen kann man von den Malereien von
E. R. Weiß (Berlin), die bei Thannhauser
zusammengestellt waren, vorläufig nicht mehr
aussagen als: anständiges Niveau mit gediege-
nem Komponieren älterer Art. Landschaften
besser als Menschliches, kleine Formate den
großen, nicht immer ausgefüllten, vorzuzie-
hen. — Ausgezeichnet die Ausstellung „Neue
Münchner Stoffe“ (Druck- und Web-
stoffe), die die „Neue Sammlung“ vor-
wies. Schon ausstellungstechnisch ein Meister-
stück, wenn man bedenkt, wie schwer es ist,
derartige Materie in neuem Sinne, ohne die
üblichen Bauschungen, Auslegereien, Kokette-
rien vorzuzeigen. Die Stoffe waren bestens
ausgewählt. Derartiges aufzuzeigen, ist wich-
tiger als „Kunstgewerbegegenstände zum Auf-
stellen“. Denn der selbstlose Dienst, den
gute Stoffe einem menschlichen Leibe oder
der Innenarchitektur leisten, ist heute das Ent-
scheidende, weil hier ein größerer lebensfunk-
tionaler Wert gerade für den Alltag liegt. Des-
halb war es ein altherrenhaftes Verkennen der
Zeit, wenn R. von Delius gerade die Neutra-
lität dieser Stoffe in einer Besprechung ta-
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