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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 19.1927

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Heft 8
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Zum neuen Bauen
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https://doi.org/10.11588/diglit.39946#0287

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ZUM NEUEN BAUEN-

DER WETTKAMPF UM DAS HAUS DER
NATIONEN
Es handelt sicli uni den größten, internatio-
nalen Wettbewerb seit der „Chicago-Tribüne“.
Gegen 4oo Entwürfe sind eingegangen. Ein
großer Teil der Avant-Garde hat sich betei-
ligt und wir sind gespannt, inwieweit die Re-
aktion noch Macht hat, die Entwicklung zu
unterbinden.
Dieser Tage trat das Preisgericht in Genf zu-
sammen und hat die Absicht drei bis vier
Wochen zu tagen, ehe das Urteil gefällt wird,
was für eine Behausung der Völkerbund sich
zu geben gedenkt.
Es wird nicht mehr lange gehen, bis das Inter-
esse an der architektonischen Gestaltung die
Allgemeinheit erreicht haben wird. Heute ist
es noch nicht der Fall. Interesse an archi-
tektonischer Gestaltung setzt ein, ehe die
Dinge stehen, solange sie noch im Fluß sind,
nicht erst, wenn sie unabänderlich wurden,
ln Zeiten des Übergangs wie der unsrigen, läßt
sich absolute „Qualität“ schwer festlegen, zu-
mal in traditionsgesättigtem Gebiet, wie dem
der Architektur. Was etwa einem Vertreter
der Academie des beaux arts als erfüllt mit
den schönsten Traditionen des Landes er-
scheint. ist für einen Vertreter unserer Zeit
schlimmster Museumsmuff. Und was für ei-
nen Architekten des neuen Bauens klare Er-
füllung von Zeitnotwendigkeiten bedeutet, ist
dem Akademiker Barbarei oder modischer
Bluff. — So werden architektonische Preisge-
richte heute fast immer zum Wettkampf
zweier Anschauungen. In Genf dürfte das be-
sonders deutlich werden, wo die verschieden-
sten Kulturkreise aufeinander stoßen.
Das Bauprogramm ist so außerordentlich
reizvoll, daß man begreift, wenn es jedem Ar-
chitekten in den Fingern gezuckt hat, da mit-
zumachen. Handelt es sich doch darum, einen
Saal — dies ist der Kernpunkt des Projektes
- für zweitausend Menschen zu errichten,
einen Saal, der ganz Ohr zu sein hat, damit
keine Welle verloren geht, keine Wortnuance
der oft von den fremdesten Idiomengefärbten
Umgangssprache. Etwas ganz anderes also wie
ein Parlament, in dem Vertreter einer oder
höchstens zwei bis drei verschiedener Spra-
chen sitzen. Einen Saal, der diesen gesteiger-
ten Bedingungen entspräche, gibt es heute
noch gar nicht. Alle Hilfsmittel der akusti-
schen Erkenn tnis, jede Inanspruchnahme neuer
Materialien werden nötig sein, um aus einem
so groß dimensionierten Volumen ein einzi-

ges Ilöhrrohr werden zu lassen! Dazu
braucht es restlose Hingabe an das akustische
Phänomen. Mit repräsentativen Mitteln ist das
jedenfalls nicht erreichbar. Es wird sich zei-
gen, ob die neue Baukunst schon zu so hohen
Formulierungen fähig ist.
Werden aus den C—8km-Plänen die richtigen
gewähl t werden? Man darf schon, mit ein. wenig
Totalisatorspannung fragen: Wer wird siegen?
Wird ein Ungeheuer wie das Haager Friedens-
palais, ein Bau etwa im Sinne der Academie
des beaux arts oder ein Bau unserer Zeit ge-
krönt werden? Dies hängt von den Richtern
ab. Als das Programm ausgeschrieben wurde,
haben wdr an dieser Stelle auf die Zusam-
mensetzung des Preisgerichtes hingewiesen. Eis
zeigte sich dabei, daß die Nordländer mehr
\ ertreter unserer Zeit gewählt hatten ; die ro-
manischen Länder wählten Vertreter der Stil-
architektur. Der Stimmenzahl nach dürften
die Vertreter des Historismus in der Mehrzahl
sein, doch sind Überraschungen möglich.
Die äußersten Pole am Preisgericht sind der
Franzose Lemaresquier und der Schweizer
Karl Moser. Der Franzose: Academie des
beaux arts; der Schweizer; ein Mann, der
über sich und seine Generation hinaus fähig
ist, der Zukunft zu dienen. Wo es in der
Schweiz mit ihrem reaktionären Architektur-
betrieb junge Ansätze hat, sind sie auf seine
Schülerschaft zurückzuführen.
Lemaresquier hat in seinem Leben nicht viel
gebaut, seine Hauptleistung ist das Haus des
Epiciers Potin am Boulevard Sebastopol in
Paris, in üblicher Louis-seize-Jugendstilmi-
scliung, jedoch bekleidet er eine hohe Stelle
der Legion d'honncur und ist der intime
Freund eines mächtigen Staatsmannes.
Hoffentlich gibt es keinen Kompromiß: klas-
sizistische Langweile. Hoffentlich eine klare
Entscheidung! Wird ein leichter schwebender
Bau aus Glas, Eisen, Beton oder eine franzö-
sische Beaux-arls-Größe — wie z. B. der Fran-
zose Tronchet — mit einer Kuppel ä la Mi-
chelangelo den Sieg davon tragen? Funktion
oder Repräsentation?
Das Urteil wird unbewußt das Schicksal aus-
sprechen, das den Völkerbund erwartet. Ist
er eine repräsentative Kulisse, in der die
alten Gewalten (las Lammfell tragen oder hat
er eine Völker bindende Funktion zu erfül-
len. Mehr als anderswo wdrd man hier, w;o
keine finanziellen Hemmungen bestehen, aus-
sprechen können: Zeige mir, wie du w'ohnst
und ich will dir sagen, wer du bist. Giedion
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