hatte lm klassischen Altertum die Neuschöpfung der Doppelwesen begonnen, die jetzt von dem mittelalterlichen Geiste aufge-
nommen werden57. Portenta nennt Rhabanus Maurus nach dem Vorbilde Varros die Kreaturen, die gegen die Natur zu sein
scheinen, ostenta, monstra, prodigia’8. Die Tiersymbohk und die gesamte Vorstellungswelt des Grotesken wurde ebenso schon
aus den Quellen des Altertums gespeist. Schon um 1200 beginnt auf diesem Gebiet die französische Phantasie sich m einer
reichen und verschwendenschen Schöpferkraft zu betätigen, undfürdie frühen Beziehungen zu England ist es bezeichnend, daß
auf enghschem Boden 1211 Guillaume le Clerc, der derNormanne heißt und der französisch schreibt, auf Grund des Physiologus
und des Isidor von Sevilla sein bestiaire divin schneb59. In Nordfrankreich findet diese neue phantastische Welt auch am sicht-
barsten lhre Heimat, eine ganze Grammatik der Formen gibt die porte des libraires in Rouen60.
In der französischen und m der englischen Buchmalerei treten diese Motive ungefähr zur gleichen Zeit m der Mitte der zweiten
Hälfte des 13. Jh. auf81, gemäßigt m Frankreich, m Ubersteigerung auf enghschem Boden, so in dem Ormesby-Psalter, der m
Bury St. Edmunds Abbey zwischen 1288 und 1295 geschrieben ist62, und gleichzeitig in dem Hauptwerk der enghschen Zeichen-
kunst, m Queen Marys Psalter63. Sie sind vorher schon in der englischen Wandmalerei, etwa an der Decke der Kathedrale von
Peterborough, aufgetreten84. Am Ende des 13. Jh. spielen diese Drolerien m der Architekturplastik auch des deutschen
Kulturgebiets eine bedeutsame Rolle, vor 1298 lst der Fries des Südturmes am Straßburger Münster entstanden60. Sie
finden sich als Dekorationsmotive m den Goldschmiedeateliers, als Vorbilder für Gravierungen, für transluzide Emails wie
für Grabplatten, die Schmuck- und Minnekästchen66 werden mit ihnen verziert, Spielbretter, Buchdeckel und alle Arten
von Edelmetallarbeiten damit geschmückt67, in der Nadelmalerei, Wirkerei, Weberei, m der ganzen Welt der Bildteppiche und
Paramente spielen sie lhre Rolle68.
Eine besondere Bedeutung erhalten diese Drolenen m der enghschen Kunst. Es sind wohl lm Wesentlichen dieselben Mo-
tive wie m der französischen Kunst, und doch sind verschiedene Elemente nur in dieserWelt heimisch69. Einmal wimmeln die
bekannten enghschen Prachthandschriften von diesen verschwendensch über Seiten und Zierblätter ausgebreiteten geistreichen
und allerhebsten Figürchen und Phantastereien. Dann aber sind für England die überreich mit diesen Motiven verzierten Chor-
gestühle geradezu typisch, mcht nur die Kathedralen von Exeter, Wells, Norwich, Worcester, Chichester, Manchester sind voll
von dieser Welt, eine lange Reihe von Denkmälern, die über das ganze Land verstreut sind, varnert dies Motiv70. Es sind vor
allem die Misencordien, die Hilfskonsolen zur mitleidigen Stütze der stehenden geisthchen Herren lm Chordienst, die den Platz
für solche Darstellungen bieten. Mit einem Male tntt vom dntten Jahrzehnt des 14. Jh. an diese Welt m den westdeutschen
Chorstühlen auf. Wie bescheiden und wie mager und gemessen ist ihr Schmuck bis um diese Zeit. Erst mit dem Kölner Dom-
chorgestühl setzt diese Dekoration m solchem Reichtum und solcher Fülle ein. Und mit diesem geht zusammen, aus verwandten
57 Uber Sirene und Centaur vgl. Panzer, Der romanische Bilderfries am südlichen Choreingang des Freiburger Münsters: Freiburger Miinsterblätter II, 1906, S. 1. —
J. Sauer, Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung2 S. 314, 439 mit reicher Lit.
58 Rhabanus, De umverso (Migne, Patrologia lat. CXI, col. 195).
59 Abb. aus der späten Bdderhs. der Pariser Nat.-Bibl. bei Suchier und Birch-Hirschfeld, Gesch. d. französischen Literatur, Leipzig 1905, S. 168, 169. Dazu George G.
Druce, The mediaeval bestiaries and their imluence on ecclesiastical decorative art: Journal of the British archaeological association n. s. XXV, 1919, p. 41; XXVI, 1920,
p. 35. — Für den französischen Einfluß weiter Jos. Bedier, Les fabliaux (Bd. II d. Hist. de la litt. fran^. de Petit de Julleville). Die fabelhaften exotischen Reisebeschrei-
bungen haben dann schon lm 13. Jh. eingewirkt, beginnend mit Marco Polo. Das Livre des merveilles der Bibl. nat. zu Paris. Cod. frang. 2810 mit seinen Fabelgeschöpfen
liegt m einer zweibändigen Ausgabe der Impr. Berthaud Freres in Paris vor.
('° Vgl. ausführlich Louise Pillion, Les portails lateraux de la cathedrale de Rouen, Paris 1907. — Revue de l’art chretien 1913, p. 281; 1914, p. 363. — Mäle a. a. O., p. 78
— Sauer, a. a. O., p. 343.
61 Graf Georg Vitzthum, Die Pariser Miniaturmalerei, Leipzig 1907, S. 19, 20, 37.
62 Geschenkt der Kathedrale von Norwich durch Robert von Ormesby, Oxford, Ms Douce 366.
63 Queen Marys Psalter, Ausg. v. Warner, pl. 212—215. Tierleiber mit langen menschlichen Oberkörpern (unten bei Köln, Dom) und Tanzende in rhythmischen Paaren,
pl. 202 (unten Fig. 54).
64 T. Borenius u. Tristram, Enghsche Malerei des Mittelalters, S. 16. Uber das Vorkommen auf englischen Glasmalereien vgl. Herbert Read, English stained glass, p. 105,
pl. 71. Erst nach 1300 treten diese Motive, vielleicht aus den gleichen Quellen gespeist, m den Wandmalereien im Chor des Domes zu Schleswig aut (A. Haupt, Heid-
msches und Fratzenhaftes m nordelbischen Kirchen: Zs. f. christl. Kunst X, S. 209).
(>° Abb. bei Dehio, Gesch. d. Deutschen Kunst II, Fig. 223.
66 Vgl. H. Kohlhausen, Minnekästchen im Mittelalter, Berlin 1928, Taf. 15, 19, 27, im allg. Text, S. 38. — Pantheon 1928, S. 319.
(>7 Das Brettspiel der Stiftskirche zu Aschaffenburg in v. Hefner-Alteneck, Trachten, Kunstwerke und Gerätschaften II, Taf. 137—140, verwandt das Schachbrett des Am-
braser Kabinetts im Wiener Staatsmuseum, endlich der Deckel des Plenars Ottos des Mdden im Welfenschatz (Neumann, Rehquienschatz des Hauses Braunschweig-Lüne-
burg 1891, S.244, 249).
68 Auf der ,,Tapete“ von Sitten vgl. Ferd. Keller i. d. Mitteil. d. antiquar. Gesellschaft zu Zürich XI, Heft 6, 1857, Taf. 5, 8. Vgl. über die Herkunft J. R. Rahn, Gesch. d.
bdd. Künste i. d. Schweiz, S. 627.
69 Vgl. über den Unterschied Aldenhoven, Kölner Malerschule, S. 18. — Vitzthum, Pariser Mimaturmalerei, S. 200.
70 Eine zusammenfassende Behandlung hat dies wichtige Kapitel im Rahmen der Geschichte der englischen Plastik gefunden bei Prior u. A. Gardner, An account of mediaeval
figure-sculpture m England, Cambridge 1912, p. 533. Miss Emma Phipson, Choir Stalls and their carvings, London 1896, gibt Abbddungen aus 45 verschiedenen Kirchen.
Eine Ubersicht über das ganze Gebiet mit 241 Abbildungen bei Francis Bond, Wood carvings m English churches. I. Misericords, London 1910. Vgl. G. C. Druce,
Some abnormal and composite human forms m English church architecture: Archaeological journal LXXII, 1915, p. 135. Die merkwürdigen Misericordien von Worcester
m ausgezeichneten Photographien bei Elijah Aldis, Carvings and sculptures of Worcester cathedral, London 1873, die von Manchester bei Henry A. Hudson, The mediaeval
woodwork of Manchester Cathedral, Manchester 1924. Vgl. noch F. E. Howard and F. H. Croßley, English church woodwork, London 1917, p. 189 und H. Chfford Smith,
Victoria and Albert Museum. Catalogue of English furniture and woodwork, I, 1923.
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nommen werden57. Portenta nennt Rhabanus Maurus nach dem Vorbilde Varros die Kreaturen, die gegen die Natur zu sein
scheinen, ostenta, monstra, prodigia’8. Die Tiersymbohk und die gesamte Vorstellungswelt des Grotesken wurde ebenso schon
aus den Quellen des Altertums gespeist. Schon um 1200 beginnt auf diesem Gebiet die französische Phantasie sich m einer
reichen und verschwendenschen Schöpferkraft zu betätigen, undfürdie frühen Beziehungen zu England ist es bezeichnend, daß
auf enghschem Boden 1211 Guillaume le Clerc, der derNormanne heißt und der französisch schreibt, auf Grund des Physiologus
und des Isidor von Sevilla sein bestiaire divin schneb59. In Nordfrankreich findet diese neue phantastische Welt auch am sicht-
barsten lhre Heimat, eine ganze Grammatik der Formen gibt die porte des libraires in Rouen60.
In der französischen und m der englischen Buchmalerei treten diese Motive ungefähr zur gleichen Zeit m der Mitte der zweiten
Hälfte des 13. Jh. auf81, gemäßigt m Frankreich, m Ubersteigerung auf enghschem Boden, so in dem Ormesby-Psalter, der m
Bury St. Edmunds Abbey zwischen 1288 und 1295 geschrieben ist62, und gleichzeitig in dem Hauptwerk der enghschen Zeichen-
kunst, m Queen Marys Psalter63. Sie sind vorher schon in der englischen Wandmalerei, etwa an der Decke der Kathedrale von
Peterborough, aufgetreten84. Am Ende des 13. Jh. spielen diese Drolerien m der Architekturplastik auch des deutschen
Kulturgebiets eine bedeutsame Rolle, vor 1298 lst der Fries des Südturmes am Straßburger Münster entstanden60. Sie
finden sich als Dekorationsmotive m den Goldschmiedeateliers, als Vorbilder für Gravierungen, für transluzide Emails wie
für Grabplatten, die Schmuck- und Minnekästchen66 werden mit ihnen verziert, Spielbretter, Buchdeckel und alle Arten
von Edelmetallarbeiten damit geschmückt67, in der Nadelmalerei, Wirkerei, Weberei, m der ganzen Welt der Bildteppiche und
Paramente spielen sie lhre Rolle68.
Eine besondere Bedeutung erhalten diese Drolenen m der enghschen Kunst. Es sind wohl lm Wesentlichen dieselben Mo-
tive wie m der französischen Kunst, und doch sind verschiedene Elemente nur in dieserWelt heimisch69. Einmal wimmeln die
bekannten enghschen Prachthandschriften von diesen verschwendensch über Seiten und Zierblätter ausgebreiteten geistreichen
und allerhebsten Figürchen und Phantastereien. Dann aber sind für England die überreich mit diesen Motiven verzierten Chor-
gestühle geradezu typisch, mcht nur die Kathedralen von Exeter, Wells, Norwich, Worcester, Chichester, Manchester sind voll
von dieser Welt, eine lange Reihe von Denkmälern, die über das ganze Land verstreut sind, varnert dies Motiv70. Es sind vor
allem die Misencordien, die Hilfskonsolen zur mitleidigen Stütze der stehenden geisthchen Herren lm Chordienst, die den Platz
für solche Darstellungen bieten. Mit einem Male tntt vom dntten Jahrzehnt des 14. Jh. an diese Welt m den westdeutschen
Chorstühlen auf. Wie bescheiden und wie mager und gemessen ist ihr Schmuck bis um diese Zeit. Erst mit dem Kölner Dom-
chorgestühl setzt diese Dekoration m solchem Reichtum und solcher Fülle ein. Und mit diesem geht zusammen, aus verwandten
57 Uber Sirene und Centaur vgl. Panzer, Der romanische Bilderfries am südlichen Choreingang des Freiburger Münsters: Freiburger Miinsterblätter II, 1906, S. 1. —
J. Sauer, Symbolik des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung2 S. 314, 439 mit reicher Lit.
58 Rhabanus, De umverso (Migne, Patrologia lat. CXI, col. 195).
59 Abb. aus der späten Bdderhs. der Pariser Nat.-Bibl. bei Suchier und Birch-Hirschfeld, Gesch. d. französischen Literatur, Leipzig 1905, S. 168, 169. Dazu George G.
Druce, The mediaeval bestiaries and their imluence on ecclesiastical decorative art: Journal of the British archaeological association n. s. XXV, 1919, p. 41; XXVI, 1920,
p. 35. — Für den französischen Einfluß weiter Jos. Bedier, Les fabliaux (Bd. II d. Hist. de la litt. fran^. de Petit de Julleville). Die fabelhaften exotischen Reisebeschrei-
bungen haben dann schon lm 13. Jh. eingewirkt, beginnend mit Marco Polo. Das Livre des merveilles der Bibl. nat. zu Paris. Cod. frang. 2810 mit seinen Fabelgeschöpfen
liegt m einer zweibändigen Ausgabe der Impr. Berthaud Freres in Paris vor.
('° Vgl. ausführlich Louise Pillion, Les portails lateraux de la cathedrale de Rouen, Paris 1907. — Revue de l’art chretien 1913, p. 281; 1914, p. 363. — Mäle a. a. O., p. 78
— Sauer, a. a. O., p. 343.
61 Graf Georg Vitzthum, Die Pariser Miniaturmalerei, Leipzig 1907, S. 19, 20, 37.
62 Geschenkt der Kathedrale von Norwich durch Robert von Ormesby, Oxford, Ms Douce 366.
63 Queen Marys Psalter, Ausg. v. Warner, pl. 212—215. Tierleiber mit langen menschlichen Oberkörpern (unten bei Köln, Dom) und Tanzende in rhythmischen Paaren,
pl. 202 (unten Fig. 54).
64 T. Borenius u. Tristram, Enghsche Malerei des Mittelalters, S. 16. Uber das Vorkommen auf englischen Glasmalereien vgl. Herbert Read, English stained glass, p. 105,
pl. 71. Erst nach 1300 treten diese Motive, vielleicht aus den gleichen Quellen gespeist, m den Wandmalereien im Chor des Domes zu Schleswig aut (A. Haupt, Heid-
msches und Fratzenhaftes m nordelbischen Kirchen: Zs. f. christl. Kunst X, S. 209).
(>° Abb. bei Dehio, Gesch. d. Deutschen Kunst II, Fig. 223.
66 Vgl. H. Kohlhausen, Minnekästchen im Mittelalter, Berlin 1928, Taf. 15, 19, 27, im allg. Text, S. 38. — Pantheon 1928, S. 319.
(>7 Das Brettspiel der Stiftskirche zu Aschaffenburg in v. Hefner-Alteneck, Trachten, Kunstwerke und Gerätschaften II, Taf. 137—140, verwandt das Schachbrett des Am-
braser Kabinetts im Wiener Staatsmuseum, endlich der Deckel des Plenars Ottos des Mdden im Welfenschatz (Neumann, Rehquienschatz des Hauses Braunschweig-Lüne-
burg 1891, S.244, 249).
68 Auf der ,,Tapete“ von Sitten vgl. Ferd. Keller i. d. Mitteil. d. antiquar. Gesellschaft zu Zürich XI, Heft 6, 1857, Taf. 5, 8. Vgl. über die Herkunft J. R. Rahn, Gesch. d.
bdd. Künste i. d. Schweiz, S. 627.
69 Vgl. über den Unterschied Aldenhoven, Kölner Malerschule, S. 18. — Vitzthum, Pariser Mimaturmalerei, S. 200.
70 Eine zusammenfassende Behandlung hat dies wichtige Kapitel im Rahmen der Geschichte der englischen Plastik gefunden bei Prior u. A. Gardner, An account of mediaeval
figure-sculpture m England, Cambridge 1912, p. 533. Miss Emma Phipson, Choir Stalls and their carvings, London 1896, gibt Abbddungen aus 45 verschiedenen Kirchen.
Eine Ubersicht über das ganze Gebiet mit 241 Abbildungen bei Francis Bond, Wood carvings m English churches. I. Misericords, London 1910. Vgl. G. C. Druce,
Some abnormal and composite human forms m English church architecture: Archaeological journal LXXII, 1915, p. 135. Die merkwürdigen Misericordien von Worcester
m ausgezeichneten Photographien bei Elijah Aldis, Carvings and sculptures of Worcester cathedral, London 1873, die von Manchester bei Henry A. Hudson, The mediaeval
woodwork of Manchester Cathedral, Manchester 1924. Vgl. noch F. E. Howard and F. H. Croßley, English church woodwork, London 1917, p. 189 und H. Chfford Smith,
Victoria and Albert Museum. Catalogue of English furniture and woodwork, I, 1923.
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