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Das Kunſtgewerbe

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Beinen ſpitze Schnabelſchuhe fordert und das
bunte Gewand ſelbſt inSaddeln ausge-
zackt wird, wenn die gezierte Form der goti-
ſchen Kurve, bis zur martervoll erzwunge-
nen Biegung übertrieben, für die Frau eine
Modeſache wird (lbb. 66). Wir konnen dieſe
Vorliebe der Zeit für die unruhige Cinie ge-
nau verfolgen, ſehen, wie man jezt nicht
mehr mit geſchloſſenen, ſondern wenn mög-
lich mit gegrätſchten Beinen ſitzt, etwa auf
einem dreieckigen Stuhl, deſſen eine Ecke
zwiſchen den Beinen hervorſteht.
Dieſe Sucht, den Raum mit Bewegung zu
füllen, führt zur Schaffung ganz neuer kirch-
licher Mobilienformen, wie etwa des Sakra-
mentshäuschens. Das eigentliche Behältnis
für das Sakrament kommt in ihm gar nicht
mehr zu Wort. Nuf ganz leichten Stützen ruht
es; ſogar das Karatidenmotiv, von deſſen
momentaner lirt ſchon die Rede war, findet
ſich an dem beſonders reichen Exemplar der
Gattung, das dam Kraft in Nürnberg
meißelte, in den Geſtalten von Meiſter und
Geſellen wieder. Den hauptwert, der ein
Bewegungswert iſt, trägt ein elegant an—
ſteigender Turm, der in zierlichſtem, ſpitzenar-
tigem Steinwerk gearbeitet, von überreich ver-
knoteten Ornamenten umſponnen, mit figür-
lichen Elementen durchſetzt iſt. Er ſteigt ganz
ſteil empor und wagt es noch nicht einmal,
ſpitz zu endigen, ſondern rollt die zierliche
Spitze zur Schnecke zuſammen.
Es iſt alſo eine geſteigerte Erregtheit des Sehens, die Plaſtiker
und Maler des 15. Jahrhunderts bis zum Phantaſtiſchen führt.
Wan hat von ihrer Kunſt als dem Beginn einer deutſchen Re-
naiſſance geſprochen; aber trozdem die italieniſche Frührenaiſſance ihre
Fülle zur gleichen õeit entfaltet, darf man doch den Stilbegriff nicht ein-
fach verpflanzen. Denn Maſaccio und Donatello ſtehen am Alnfang einer

Abb. 64.
Spätgotiſche Monſtranz
 
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