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MÜNSTER
bildbestimmenden Glasmalers) an Rats- und Klaner-Fenster von dem der übrigen Kollegen der Werkstattgemeinschaft
abhebt: Man vergleiche stellvertretend den Ulmer Auferstandenen mit Gottvater und Christus der Marienkrönung in
Salzburg (Textabb. 43 f.) oder die maskenhaften Assistenzfiguren der Salzburger Anbetung mit den Juden im Stadttor
von Jerusalem im Ratsfenster (Abb. 13)229. Geht man davon aus, daß das 1473, also lange vor dem Zusammenschluß
bestellte, bereits mit 10 Gulden angezahlte, 1478 nochmals angemahnte und schließlich 1480 abgelieferte Fenster des
Augustin Klaner nicht ohne weiteres in einer der anderen Werkstätten der seit 1477 bestehenden Kooperative ausge-
führt worden sein dürfte (Hemmel hätte sonst wohl den erhaltenen Vorschuß mit einem seiner Kollegen verrechnen
müssen), dann ist in Salzburg und nirgendwo sonst auch der Maßstab für die spezifischen Qualitäten der Hemmel-
Werkstatt zu suchen. Der hermetische Umgang mit den Bildräumen, die eng gedrängten Figurengruppen, die im Detail
minutiöse Ausführung und das hohe Maß negativer Techniken (aus dem Halbton gestupfte, gewischte und radierte
Lichter) zur Modellierung der plastischen Formen, besonders kennzeichnend die dünnen Radierlinien an den Händen
und Fingernägeln (vgl. etwa Abb. 3 3), sind in den meisten Teilen des Ratsfensters in ähnlichem Umfang wie in Salzburg
zu beobachten230.
Demselben engeren Kreis gehört auch die einzigartige Serie der neun Ulmer Rundscheiben, die überdies dieselben
Themen behandeln wie das Ratsfenster (Textabb. 41, Taf. XXIII—XXV). Der von Hermann Schmitz treffend als
das »vollendetste Werk oberdeutscher Kabinettscheibenmalerei« charakterisierte Zyklus verrät die typisch »tonige«,
subtil gestupfte Gewandmodellierung des Ratsfensters und auch die plastische Auffassung der Köpfe mit den aus
dunklem Halbton unvermittelt ausgewischten hellen Lichtern dürften als handschriftliches Merkmal eines Meisters
betrachtet werden231. Daß dieser im kleinen Format zu ungleich bewegter, »dramatisch-erregter« Inszenierung der
biblischen Ereignisse fähig war, unterstreicht die von Becksmann geäußerte Einschätzung, der den sogenannten
»Ratsmeister« (vielleicht doch Hemmel selbst) als einen der ersten und führenden Vertreter der Kabinettscheibenmale-
rei bezeichnet hatte232.
Mit den oben angeführten Merkmalen läßt sich das Ulmer Kramerfenster trotz weitgehender thematischer Übereinstim-
mung mit dem Klaner-Fenster nicht verbinden. Die großzügig auf mehrere Felder übergreifenden Kompositionen, die
bei Frankl und Wentzel sogar die Empfindung des »Leeren« hervorgerufen hatten, offenbaren ein völlig veränder-
tes Verhältnis von Figur und Bildraum und führen zusammen mit der freundlich sprechenden, lebendigen Mimik und
der plastisch formumschreibenden Zeichnung der Gesichtszüge vielmehr in direkter Linie zurück auf das Achsenfen-
ster der Tübinger Stiftskirche und weiterhin — in den besten Teilen der Wurzel Jesse — auf das Katharinenfenster der
Straßburger Wilhelmerkirche233. Die konsequente Fortentwicklung der Tübinger Kompositionen im Ulmer Kramerfen-
ster verrät nicht nur in jeder Hinsicht denselben Entwerfer, der - selbst offenbar weniger dramaturgisch begabt als
etwa der Schöpfer der Rundscheiben — doch in hohem Maße kompilative Fähigkeiten mit seiner eigentlichen Stärke,
der »Beseelung« der Figuren zu verbinden wußte234. Es können darüber hinaus in der Ausführung auch keine Zweifel
229 Vgl. einstweilen die Abbildungen bei Frankl, Hemmel, 1956, Abb.
117—129 bzw. 130—136.
230 Auf diese Weise bestätigt sich letztlich die von Wentzel, Ratsfen-
ster, 1951, vertretene Zuweisung des Ulmer Achsenfensters zum engeren
Kreis der Hemmel—Werke (d.h. mit dessen persönlicher Beteiligung).
231 Die von Schmitz, 1913, I, S. loif. bzw. ders., Deutsche Glasmalerei
der Gotik und Renaissance, Rund- und Kabinettscheiben, München
1923, S. 6f., mit Vorsicht in die Forschung eingeführte Zuordnung der
Rundscheiben in das Umfeld Hans Wilds (später Hemmeis) ist nicht auf
ungeteilte Zustimmung gestoßen: Fischer, 1914, S. 158, Otto von Fal-
ke, Deutsche Rundscheiben, in: Pantheon 11, 1933, S. 19ff., Heye, 1965,
S. 57, und Beeh-Lustenberger, 1973, S. 174, haben die enge Verwandt-
schaft ebenfalls betont, die Frage nach dem Meister aber letztlich offen
gelassen. Habicht, 1922, S. 48-56, und Wentzel, *1954, S. 70, haben
dagegen die Unterschiede überbewertet und Namen wie Grünewald oder
den Hausbuchmeister ins Spiel gebracht; erst neuerdings hat Becks-
mann, Deutsche Glasmalerei, 1988, S. 169, m.E. zutreffend die Identität
mit dem Meister des Ulmer Ratsfensters vorgeschlagen. Vgl. insbeson-
dere den Einzug in Jerusalem, die versuchte Steinigung Christi und die
Speisung der 5000, wo sich überdies die derber typisierten Köpfe zum
Vergleich eignen (Taf. XXIIId, e, XXV).
232 Becksmann, CVMA Deutschland I, 2, 1986, S. LVI. Dagegen hatten
Wentzel, Meisterwerke, 2i 9 54, S. 71, und Frankl, Nachträge, 1962, S.
212, alle Kabinettscheiben definitiv aus dem CEuvre-Verzeichnis Hem-
mels ausgeschieden; die später von Wentzel, Rez. zu Frankl, Hemmel,
1956, in: Kunstchronik 1958, S. 109, vorgebrachten Einwände waren
vielmehr polemischer Natur.
233 Zur Farbverglasung der Wilhelmerkirche vgl. einstweilen Frankl,
Hemmel, 1956, S. 39-46, Abb. 29-40, und ders., Wilhelmerkirche, 1960,
hier besonders S. 19—21. Die gängige Zuschreibung des Katharinenfen-
sters an Peter Hemmel ist nie eigentlich begründet worden.
234 Frankl, Nachträge, 1962, S. 209 h, hat diese Eigenart sehr wohl ge-
sehen, wenngleich er das besondere Kennzeichen der »Beseeltheit der
Gesichter« vor allem für Theobald Lixheim in Anspruch nimmt; ver-
gleicht man das originale Kopffragment der Hl. Magdalena aus Finstin-
gen (sog. Femme ä la Coiffe d’Or) im Straßburger Musee de l’CEuvre
Notre-Dame, die mit Recht für die Lixheim-Werkstatt in Anspruch ge-
nommen wird, dann ist die Nähe zu einzelnen Geschöpfen des Kramer-
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bildbestimmenden Glasmalers) an Rats- und Klaner-Fenster von dem der übrigen Kollegen der Werkstattgemeinschaft
abhebt: Man vergleiche stellvertretend den Ulmer Auferstandenen mit Gottvater und Christus der Marienkrönung in
Salzburg (Textabb. 43 f.) oder die maskenhaften Assistenzfiguren der Salzburger Anbetung mit den Juden im Stadttor
von Jerusalem im Ratsfenster (Abb. 13)229. Geht man davon aus, daß das 1473, also lange vor dem Zusammenschluß
bestellte, bereits mit 10 Gulden angezahlte, 1478 nochmals angemahnte und schließlich 1480 abgelieferte Fenster des
Augustin Klaner nicht ohne weiteres in einer der anderen Werkstätten der seit 1477 bestehenden Kooperative ausge-
führt worden sein dürfte (Hemmel hätte sonst wohl den erhaltenen Vorschuß mit einem seiner Kollegen verrechnen
müssen), dann ist in Salzburg und nirgendwo sonst auch der Maßstab für die spezifischen Qualitäten der Hemmel-
Werkstatt zu suchen. Der hermetische Umgang mit den Bildräumen, die eng gedrängten Figurengruppen, die im Detail
minutiöse Ausführung und das hohe Maß negativer Techniken (aus dem Halbton gestupfte, gewischte und radierte
Lichter) zur Modellierung der plastischen Formen, besonders kennzeichnend die dünnen Radierlinien an den Händen
und Fingernägeln (vgl. etwa Abb. 3 3), sind in den meisten Teilen des Ratsfensters in ähnlichem Umfang wie in Salzburg
zu beobachten230.
Demselben engeren Kreis gehört auch die einzigartige Serie der neun Ulmer Rundscheiben, die überdies dieselben
Themen behandeln wie das Ratsfenster (Textabb. 41, Taf. XXIII—XXV). Der von Hermann Schmitz treffend als
das »vollendetste Werk oberdeutscher Kabinettscheibenmalerei« charakterisierte Zyklus verrät die typisch »tonige«,
subtil gestupfte Gewandmodellierung des Ratsfensters und auch die plastische Auffassung der Köpfe mit den aus
dunklem Halbton unvermittelt ausgewischten hellen Lichtern dürften als handschriftliches Merkmal eines Meisters
betrachtet werden231. Daß dieser im kleinen Format zu ungleich bewegter, »dramatisch-erregter« Inszenierung der
biblischen Ereignisse fähig war, unterstreicht die von Becksmann geäußerte Einschätzung, der den sogenannten
»Ratsmeister« (vielleicht doch Hemmel selbst) als einen der ersten und führenden Vertreter der Kabinettscheibenmale-
rei bezeichnet hatte232.
Mit den oben angeführten Merkmalen läßt sich das Ulmer Kramerfenster trotz weitgehender thematischer Übereinstim-
mung mit dem Klaner-Fenster nicht verbinden. Die großzügig auf mehrere Felder übergreifenden Kompositionen, die
bei Frankl und Wentzel sogar die Empfindung des »Leeren« hervorgerufen hatten, offenbaren ein völlig veränder-
tes Verhältnis von Figur und Bildraum und führen zusammen mit der freundlich sprechenden, lebendigen Mimik und
der plastisch formumschreibenden Zeichnung der Gesichtszüge vielmehr in direkter Linie zurück auf das Achsenfen-
ster der Tübinger Stiftskirche und weiterhin — in den besten Teilen der Wurzel Jesse — auf das Katharinenfenster der
Straßburger Wilhelmerkirche233. Die konsequente Fortentwicklung der Tübinger Kompositionen im Ulmer Kramerfen-
ster verrät nicht nur in jeder Hinsicht denselben Entwerfer, der - selbst offenbar weniger dramaturgisch begabt als
etwa der Schöpfer der Rundscheiben — doch in hohem Maße kompilative Fähigkeiten mit seiner eigentlichen Stärke,
der »Beseelung« der Figuren zu verbinden wußte234. Es können darüber hinaus in der Ausführung auch keine Zweifel
229 Vgl. einstweilen die Abbildungen bei Frankl, Hemmel, 1956, Abb.
117—129 bzw. 130—136.
230 Auf diese Weise bestätigt sich letztlich die von Wentzel, Ratsfen-
ster, 1951, vertretene Zuweisung des Ulmer Achsenfensters zum engeren
Kreis der Hemmel—Werke (d.h. mit dessen persönlicher Beteiligung).
231 Die von Schmitz, 1913, I, S. loif. bzw. ders., Deutsche Glasmalerei
der Gotik und Renaissance, Rund- und Kabinettscheiben, München
1923, S. 6f., mit Vorsicht in die Forschung eingeführte Zuordnung der
Rundscheiben in das Umfeld Hans Wilds (später Hemmeis) ist nicht auf
ungeteilte Zustimmung gestoßen: Fischer, 1914, S. 158, Otto von Fal-
ke, Deutsche Rundscheiben, in: Pantheon 11, 1933, S. 19ff., Heye, 1965,
S. 57, und Beeh-Lustenberger, 1973, S. 174, haben die enge Verwandt-
schaft ebenfalls betont, die Frage nach dem Meister aber letztlich offen
gelassen. Habicht, 1922, S. 48-56, und Wentzel, *1954, S. 70, haben
dagegen die Unterschiede überbewertet und Namen wie Grünewald oder
den Hausbuchmeister ins Spiel gebracht; erst neuerdings hat Becks-
mann, Deutsche Glasmalerei, 1988, S. 169, m.E. zutreffend die Identität
mit dem Meister des Ulmer Ratsfensters vorgeschlagen. Vgl. insbeson-
dere den Einzug in Jerusalem, die versuchte Steinigung Christi und die
Speisung der 5000, wo sich überdies die derber typisierten Köpfe zum
Vergleich eignen (Taf. XXIIId, e, XXV).
232 Becksmann, CVMA Deutschland I, 2, 1986, S. LVI. Dagegen hatten
Wentzel, Meisterwerke, 2i 9 54, S. 71, und Frankl, Nachträge, 1962, S.
212, alle Kabinettscheiben definitiv aus dem CEuvre-Verzeichnis Hem-
mels ausgeschieden; die später von Wentzel, Rez. zu Frankl, Hemmel,
1956, in: Kunstchronik 1958, S. 109, vorgebrachten Einwände waren
vielmehr polemischer Natur.
233 Zur Farbverglasung der Wilhelmerkirche vgl. einstweilen Frankl,
Hemmel, 1956, S. 39-46, Abb. 29-40, und ders., Wilhelmerkirche, 1960,
hier besonders S. 19—21. Die gängige Zuschreibung des Katharinenfen-
sters an Peter Hemmel ist nie eigentlich begründet worden.
234 Frankl, Nachträge, 1962, S. 209 h, hat diese Eigenart sehr wohl ge-
sehen, wenngleich er das besondere Kennzeichen der »Beseeltheit der
Gesichter« vor allem für Theobald Lixheim in Anspruch nimmt; ver-
gleicht man das originale Kopffragment der Hl. Magdalena aus Finstin-
gen (sog. Femme ä la Coiffe d’Or) im Straßburger Musee de l’CEuvre
Notre-Dame, die mit Recht für die Lixheim-Werkstatt in Anspruch ge-
nommen wird, dann ist die Nähe zu einzelnen Geschöpfen des Kramer-