4
Die Kunst des Mittelalters
germanen, ist doch nichts anderes als barbarisiertes Lehngut, wenn
auch mit bestimmt gerichtetem eigenen Willen in der Art der Aus-
wahl und Abwandlung der Originale. Das Wesentliche ist das
Absehen von der Naturwirklichkeit, eine absolute Musik der
Linie. Auch die als Eroberer in die römischen Grenzen eindrin-
genden Stämme sind zur Kunst in kein aktiveres Verhältnis ge-
kommen; sie waren weitaus nicht die Zerstörer, die »Vandalen«,
zu denen die spätere Legende sie gestempelt hat; sie gründeten
ein Geschlecht von Herren, nicht von Handwerkem; sie nahmen
die Kunst hin als einen untrennbaren Bestandteil der vorgefun-
denen Kultur, aber kraft eigenen Geschmacks ihr Vorschriften zu
machen, lag ihnen fern. Genug, auch nach der germanischen
Eroberung wandelte sich die Kunst der lateinischen Länder genau so
ab, wie sie es ohne sie getan hätte.
Erst die um Jahrhunderte jüngere zweite Aussaat im Norden,
die von der christlichen Kirche unternommene, ging auf. Erst
jetzt kam die Zeit, wo der nordische Mensch auf die an ihn heran-
gebrachten Kunsteindrücke seehsch antwortete, wo er sie nach
s e i n e m Sinne sich deutete, nach s e i n e m Sinne umgewandelt
etwas Ähnliches und doch schon anderes hervorzubringen sich
gereizt fühlte. Zum erstenmal in greifbarer Gestalt tritt uns dies
neue Verhalten im Reiche Karls des Großen entgegen: hier ist schon
Mittelalter.
Zweierlei Veränderangen hatten sich inzwischen vollzogen:
die eine in der inneren Disposition des empfangenden Teils, der
Forschung verschlossen, aber notwendig vorauszusetzen; die
andere im überheferten Stoffe selbst. Es handelte sich nicht
mehr um die echte Antike, sondern um die schon innerhchst ver-
wandelte, durch das Eindringen des wiedererwachten alten Orients
einer ersten Zerlegung und neuen Zielsetzung unterworfenen
Spätantike. Einen zweiten Zersetzungsprozeß leitete jetzt der
nordische Geist ein. War dies Geschäft vollbracht, so konnte
der Aufbau eines neuen Kunstkörpers folgen. Für das Verständnis
des Vorganges wesenthch ist, daß in der antiken Uberheferung
immer noch ein Rest von Leben geblieben war. Die Kunst des
karolingischen Zeitalters ist nicht W i e d e r belebung, nicht
Die Kunst des Mittelalters
germanen, ist doch nichts anderes als barbarisiertes Lehngut, wenn
auch mit bestimmt gerichtetem eigenen Willen in der Art der Aus-
wahl und Abwandlung der Originale. Das Wesentliche ist das
Absehen von der Naturwirklichkeit, eine absolute Musik der
Linie. Auch die als Eroberer in die römischen Grenzen eindrin-
genden Stämme sind zur Kunst in kein aktiveres Verhältnis ge-
kommen; sie waren weitaus nicht die Zerstörer, die »Vandalen«,
zu denen die spätere Legende sie gestempelt hat; sie gründeten
ein Geschlecht von Herren, nicht von Handwerkem; sie nahmen
die Kunst hin als einen untrennbaren Bestandteil der vorgefun-
denen Kultur, aber kraft eigenen Geschmacks ihr Vorschriften zu
machen, lag ihnen fern. Genug, auch nach der germanischen
Eroberung wandelte sich die Kunst der lateinischen Länder genau so
ab, wie sie es ohne sie getan hätte.
Erst die um Jahrhunderte jüngere zweite Aussaat im Norden,
die von der christlichen Kirche unternommene, ging auf. Erst
jetzt kam die Zeit, wo der nordische Mensch auf die an ihn heran-
gebrachten Kunsteindrücke seehsch antwortete, wo er sie nach
s e i n e m Sinne sich deutete, nach s e i n e m Sinne umgewandelt
etwas Ähnliches und doch schon anderes hervorzubringen sich
gereizt fühlte. Zum erstenmal in greifbarer Gestalt tritt uns dies
neue Verhalten im Reiche Karls des Großen entgegen: hier ist schon
Mittelalter.
Zweierlei Veränderangen hatten sich inzwischen vollzogen:
die eine in der inneren Disposition des empfangenden Teils, der
Forschung verschlossen, aber notwendig vorauszusetzen; die
andere im überheferten Stoffe selbst. Es handelte sich nicht
mehr um die echte Antike, sondern um die schon innerhchst ver-
wandelte, durch das Eindringen des wiedererwachten alten Orients
einer ersten Zerlegung und neuen Zielsetzung unterworfenen
Spätantike. Einen zweiten Zersetzungsprozeß leitete jetzt der
nordische Geist ein. War dies Geschäft vollbracht, so konnte
der Aufbau eines neuen Kunstkörpers folgen. Für das Verständnis
des Vorganges wesenthch ist, daß in der antiken Uberheferung
immer noch ein Rest von Leben geblieben war. Die Kunst des
karolingischen Zeitalters ist nicht W i e d e r belebung, nicht