reich, denn das russische Volk wurde erst ein halbes Iahrhundert später vom
Ioch der Leibeigenschaft befreit, blieb durch (Linrichtung des „Geineinde-
besitzes" in seiner wirtschaftlichen Entwicklung gehemmt und besteht noch
heutigen Tages zu 80 bis 90 v. H. aus Analphabeten.
Ie höher die allgemeine Kultur der Esten und Letten stieg, desto stärker
wurde in ihnen das Streben nach dem Zutritt zu den höheren Berufen,
die bisher der deutschen „tzerren"klasse vorbehalten gewesen. Dieser Drang
wurde von den Deutschen nicht gehemmt, seine Erfüllung war aber an
eine Bedingung geknüpft: das Aufgeben der Nationalität. Der bisher
gültige Grundsatz dieses Landes: „Ieder gebildete Balte ist DeuLscher"
wurde auch auf die emporstrebenden Ureinwohner angewandt. Als Mittel
dazu diente die Organisation des baltischen Schulwesens. In den länd»
lichen Volksschulen wurde in den Elementarfächern estnisch und lettisch
unterrichtet, denn die Germanisierung der Landbevölkerung war nicht er-
strebt. Die höhere Bildung in allen städtischen Lehranstalten bis hinauf
zu den baltischen tzochschulen in Dorpat und Riga wurde aber nur in
deutscher Sprache vermittelt. So wurde der gebildete Este und Lette gleich-
sam automatisch zum Deutschen: von deutschen Bildungsquellen getränkt,
als Mitglied der höheren sozialen Schichten ausschließlich mit Deutschen
verkehrend, ging er ganz im höheren Volkstum auf. „Renegaten" durfte
man diese Emporkömmlinge nicht schelten, da ihre Volksstämme eine eigene
Kultur nicht hatten. Infolge der eigenartigen kolonialen Verhältnisse des
Landes fielen hier soziale und nationale Schichtung zusammen. Es war
etwa derselbe Vorgang, wie wenn der norddeutsche Bauerssohn mit der
erworbenen höheren Bildung neben seiner plattdeutschen Muttersprache
das tzochdeutsch pslegt, die Sprache der deutschen Wissenschaft und der
Gesamtheit aller deutschen Gebildeten. And wie dieser keinen „Bruch"
in seiner Entwicklung fühlt, weil alles, was von Bildungseinflüssen schon
vorher in seine bäuerliche Rmgebung drang, dieselbe geistige Prägung trug,
so war es auch beim Esten und Letten der Fall. Schon seit vielen Iahr-
hunderten stand er im Banne deutscher Kultur: deutsche Lebensauffassung,
deutsches Rechtsbewußtsein, deutsche Religion (statt der russischen Ortho-
doxie der lutherische ProLLstantismus) waren mit seinem innersten Wesen
verwachsen.
Die durchaus normale und friedliche Entwicklung ist erst seit einigen
Iahrzehnten durch eine charakteristische Zeiterscheinung, das Erwachen
des nationalen Selbstbewußtseins, beunruhigt worden. Seit
den siebziger Iahren setzte auch bei den Esten und Letten eine starke
nationale Strömung ein. Zuerst war es nur eine kleine Schar von „In-
telligenten", die wohl die deutsche Bildung in sich aufnahmen, aber daneben
ihr eigenes Volkstum nicht nur behaupteten, sondern auch pflegten. Rasch
wuchs aber die Zahl und die Bedeutung dieser „Iung-Esten" und „Iung-
Letten", als sie die aufblühende estnische und lettische Presse in ihre tzände
bekamen, dadurch die gesamte Volksstimmung beherrschten und ein festes
politisches Programm aufstellten. Ihre tzauptforderungen lauteten:
Anerkennung der Parität aller baltischen Völkerschaften; Schaffung einer
selbständigen estnischen und lettischen Kultur, beginnend mit dem natio-
nalen Ausbau des Schul- und tzochschulwesens; Ersatz der aristokratischen
(„Deutschen"-) tzerrschaft durch eine demokratische Landesverfassung.
Diese Forderungen wurden von den Deutschen rundweg abgelehnt. Der
Gedanke, daß diese kleinen Völkerschaften bei ihrer zahlenmäßigen Schwäche
Ioch der Leibeigenschaft befreit, blieb durch (Linrichtung des „Geineinde-
besitzes" in seiner wirtschaftlichen Entwicklung gehemmt und besteht noch
heutigen Tages zu 80 bis 90 v. H. aus Analphabeten.
Ie höher die allgemeine Kultur der Esten und Letten stieg, desto stärker
wurde in ihnen das Streben nach dem Zutritt zu den höheren Berufen,
die bisher der deutschen „tzerren"klasse vorbehalten gewesen. Dieser Drang
wurde von den Deutschen nicht gehemmt, seine Erfüllung war aber an
eine Bedingung geknüpft: das Aufgeben der Nationalität. Der bisher
gültige Grundsatz dieses Landes: „Ieder gebildete Balte ist DeuLscher"
wurde auch auf die emporstrebenden Ureinwohner angewandt. Als Mittel
dazu diente die Organisation des baltischen Schulwesens. In den länd»
lichen Volksschulen wurde in den Elementarfächern estnisch und lettisch
unterrichtet, denn die Germanisierung der Landbevölkerung war nicht er-
strebt. Die höhere Bildung in allen städtischen Lehranstalten bis hinauf
zu den baltischen tzochschulen in Dorpat und Riga wurde aber nur in
deutscher Sprache vermittelt. So wurde der gebildete Este und Lette gleich-
sam automatisch zum Deutschen: von deutschen Bildungsquellen getränkt,
als Mitglied der höheren sozialen Schichten ausschließlich mit Deutschen
verkehrend, ging er ganz im höheren Volkstum auf. „Renegaten" durfte
man diese Emporkömmlinge nicht schelten, da ihre Volksstämme eine eigene
Kultur nicht hatten. Infolge der eigenartigen kolonialen Verhältnisse des
Landes fielen hier soziale und nationale Schichtung zusammen. Es war
etwa derselbe Vorgang, wie wenn der norddeutsche Bauerssohn mit der
erworbenen höheren Bildung neben seiner plattdeutschen Muttersprache
das tzochdeutsch pslegt, die Sprache der deutschen Wissenschaft und der
Gesamtheit aller deutschen Gebildeten. And wie dieser keinen „Bruch"
in seiner Entwicklung fühlt, weil alles, was von Bildungseinflüssen schon
vorher in seine bäuerliche Rmgebung drang, dieselbe geistige Prägung trug,
so war es auch beim Esten und Letten der Fall. Schon seit vielen Iahr-
hunderten stand er im Banne deutscher Kultur: deutsche Lebensauffassung,
deutsches Rechtsbewußtsein, deutsche Religion (statt der russischen Ortho-
doxie der lutherische ProLLstantismus) waren mit seinem innersten Wesen
verwachsen.
Die durchaus normale und friedliche Entwicklung ist erst seit einigen
Iahrzehnten durch eine charakteristische Zeiterscheinung, das Erwachen
des nationalen Selbstbewußtseins, beunruhigt worden. Seit
den siebziger Iahren setzte auch bei den Esten und Letten eine starke
nationale Strömung ein. Zuerst war es nur eine kleine Schar von „In-
telligenten", die wohl die deutsche Bildung in sich aufnahmen, aber daneben
ihr eigenes Volkstum nicht nur behaupteten, sondern auch pflegten. Rasch
wuchs aber die Zahl und die Bedeutung dieser „Iung-Esten" und „Iung-
Letten", als sie die aufblühende estnische und lettische Presse in ihre tzände
bekamen, dadurch die gesamte Volksstimmung beherrschten und ein festes
politisches Programm aufstellten. Ihre tzauptforderungen lauteten:
Anerkennung der Parität aller baltischen Völkerschaften; Schaffung einer
selbständigen estnischen und lettischen Kultur, beginnend mit dem natio-
nalen Ausbau des Schul- und tzochschulwesens; Ersatz der aristokratischen
(„Deutschen"-) tzerrschaft durch eine demokratische Landesverfassung.
Diese Forderungen wurden von den Deutschen rundweg abgelehnt. Der
Gedanke, daß diese kleinen Völkerschaften bei ihrer zahlenmäßigen Schwäche