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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,2.1916

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Heft 10 (2. Februarheft 1916)
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Gerhard, J. W.: Gibt es "Kulturvölker"?
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14292#0179

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sind ganze oder halbe Barbaren. Für den Fortschritt ist ja eine erste Be-
dingung: ehrlich und unparteiisch gegen sich selbst zu sein, also: seine eige-
nen Schwächen und Unvollkommenheiten gut zu kennen.

Ich wünsche den deutschen Kulturförderern, daß sie nach wie vor auch
die Schwächen und Unvollkommenheiten im eigenen Lande bekämpfen mögen,
durch Verbreitung unö Vertiefung der wahren Kultur, zu der auch die
Achtung vor der Kultur anderer Völker gehört. Denn gerade dem, daß sie
das getan haben, verdankt man in Deutschland, daß man dort in Kultur-
dingen mehr als die anderen Völker erreicht hat. ^

Anrsterdam I. W. Gerhard

Vom tzeute fürs Morgen

Berechenbar und unbere-
chenbar

as ist nicht alles vor dem Krieg
berechenbar geworden!

„Bull Komma zweiunddreißig
geteilt durch Geschwindigkeit mal
Logarithmus Schnelligkeit plus
minus da war die Kurve für
den Orient-Expreß berechnet. „Last
mal Zugfestigkeit geteilt durch —",
da hatten sie den Kran berechnet.
„Spannung mal Winddruck minus
Wurzel aus . . .", schon griff die
Brücke übern Fluß. Das war nicht
genug. Vom eisernen Gebälk der
Technik flog der klirrende Berechen-
barkeitsvogel auf und ließ sich auf
die Menschen nieder. Da wurden
auch diese berechenbar. Sie be-
rechneten die Wahrscheinlichkeits-
kurve der Todesfälle auf sieben De-
zimalstellen genau und machten eine
Lebensversicherung daraus. Und
über dem Portal der Versicherungs-
gesellschaft hieb der Steinmetz ein
schweres, unerbittliches Dezimal-
komma aus. Das drang mit seinem
Keil ins Geld und stemmte Dividen-
den heraus. Durch die Türen
zwängte es sich in die Familie und
setzte sich dick und schwer in den
Stuhl, wo sonst die Sorge saß.
„Freut euch, Kinder," sagte es, „jetzt
kann euch nichts mehr geschehen.
Selbst wenn Vater stirbt. Dann setz
ich mich auf seinen Platz." In einer
seltsamen Verblendung hießen sie

das Lebensversicherung. Während
es doch das Gegenteil war, nämlich
die Versicherung des Todes. Dar-
nach schwang sich der Berechenbar-
keitsvogel weiter in das Land und
erblickte einen Brand. Der war
grausig schön. Nur die Menschen
mit den aufgehobenen tzänden schie-
nen einen Augenblick lang zusam-
menzubrechen. Aber da wuchs aus
den Flammen des Rnglücks der
größere Mut, es zu besiegen. „Weg
da," fauchte der Berechenbarkeits-
vogel, „du bist nicht mehr nötig."
And dann blies er das Feuer aus
und schüttelte das Gesieder. Da fiel
eine Feuerversicherungspolice her-
aus. Rnd die Menschen waren es
zufrieden. Weiter griff die Berechen-
barkeit. Bach dem Feuer zwang
sie den tzagel. Auf dem Meere kal-
kulierte sie den Schiffbruch und goß
ihn um in eine brave Prämie mit
Plus und Minus. Den Diebstahl
zerfaserte sie, drehte einen Strick
Wahrscheinlichkeit und einen Strick
tzäufigkeit heraus, und band ihn.
Den Unfall zerlegte sie in einen
Bruch und eine dritte Wurzel, und
fing ihn darin ein. Ia, sogar der
Selbstmord war berechenbar gewor-
den: Soviele Selbstmorde waren in
einem Iahre fällig. Amd inner-
halb des Iahres lief der Selbstmord
noch folgsam an der Leine einer
Barometer- und Thermometerkurve.
Schließlich wurden auch die Kinder
 
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