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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,3.1916

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Heft 13 (1. Aprilheft 1916)
DOI Artikel:
Einiges von Franz Schubert: zur Pflege der älteren Musik, 4
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https://doi.org/10.11588/diglit.14293#0024

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stellen würden. Die Notwendigkeit einer Answahl aus den Massen
des von Schubert Geschasfenen gibt jeder Verständige zu; aber man er--
örtert viel lieber nebensächliche philologische Fragen als die Grundsätze
solcher Auswahl, die meist den verschiedenen Verlegern überlassen wird.

Dem Linzelnen bleibt nichts andres übrig, als seinen individuellen Lin-
druck über die Lage auszusprechen, welche das Schaffen eines Künstlers
in der Musikpflege einnimmt. Nach meinen Erfahrungen nun wird Schu-
berts Lebenswerk nicht so gewürdigt wie wünschenswert wäre. Das
scheint mir unbedingt zunächst von seinen Symphonien und Kammermusik-
werken zu gelten, mit gewissen Einschränkungen aber auch von seiner
Hausmusik. Seine Klaviermusik sei nur gestreift; an ihr ist es vielleicht
am deutlichsten, daß Schuberts Schaffen nicht völlig an 'dem Platze steht,
wo es hingehört. In Konzerten hört man die Wandererphantasie und
das O-Dur-Impromptu, in Klavierstunden hie und da eins der kleineren
Werke; aber von Den zwei Bänden vierhändiger Klaviermusik, von den
zum Teil Herrlichen und unschwer spielbaren Sonaten, von den urdeutschen,
glückhaft ersindungreichen Tänzen sucht man in so manchem musikalischen
Haus vergeblich eine Spur.

Etwas anders ist es, wie mir scheint, mit Schuberts Liedern bestellt.
Eine gewisse Anzahl davon sind, soviel ich sehe, heute noch Gemeingut
der häuslichen Musikpslege. " Eine Reihe von Liedern aus den großen
Zyklen, einige Lieder nach Goetheschen Gedichten gehören in der Hausmusik
zum festen Bestand, eine Reihe leichter und ansprechender Lieder (Kreuzzug,
Forelle, An die Musik) im Hause wie im Konzertsaal. Einerseits aber
ist dieser Bestand 'wohl seit einigen Iahren im Rückgang begriffen; ander-
seits findet man immer wieder Musikalische, die geradezu erstaunt sind,
wenn man ihnen dies oder das vorträgt, was zu diesem Bestand nicht
gehört. Lrstaunt über die Fülle dieser „ungehobenen Schätze" und er-
staunt über ihren künstlerischen Wert. Was den Rückgang in der Schätzung
Schuberts betrifft, so hat er wohl vorzüglich seinen Grund in dem Versagen
des Verständnisses für eine in den technischen Mitteln weniger anspruchs-
volle Tonsprache als die der Modernen ist* Man ist durch die zeit-
genössische Harmonik und Modulatorik, durch eine Kunst, welche die schwie-
rigsten „Gegenstände" musikalisch paraphrasiert oder „ausdrückt", durch
den überreichen Tonsatz und die überwuchernde Stimmungmache moder-
ner Liedbegleitung, durch Die überfeinerte Deklamation der Äberbieter eines
Hugo Wolf entwöhnt einer Kunst, welche mit einfacherer Harmonik, Melodik,
Deklamation ihre Wirkungen erzielte. Der Schluß scheint nahezuliegen,
der doch so falsch ist: wir hätten jene Kunst „überwunden". In Wahrheit
wird sie nie überwunden, nicht nur weil das schlechthin Geniale überhaupt
Iahrhunderte „lebt", sondern weil sie trotz ihrer einfacheren Tonsprache

* Ludwig Wüllner pflegt häufig ein Lied „Im Grünen" von Schubert zu
singen; bemerkenswert ist dabei, daß dieser große Meister, der die tiefsten
Osfenbarungen aus Schuberts Schaffen unvergleichlich wiedergibt, gerade dieses
entzückende Lied nicht zur inneren Wirkung bringt. Das Lied ist der naive,
starke Ausdruck einer naturfrohen Stimmung, wie sie gerade Schuberts Lebens-
kreis durchaus selbstverständlich war. Wüllner erkennt diese Naivität und
macht Nicht etwa ein raffiniertes Knnstwerk aus dem Lied; aber er hat diese
Naivität nicht und singt das Lied daher künstlich naiv, so wie ein Gelehrter
etwa Kindern mit gewollter Kindlichkeit Märchen erzählt, über die er im
Innern selbst ein wenig lächeln muß.
 
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