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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,3.1916

DOI Heft:
Heft 14 (2. Aprilheft 1916)
DOI Artikel:
Gregori, Ferdinand: Shakespeare
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https://doi.org/10.11588/diglit.14293#0076

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Rätsel lösen. Und Goethes Meinung wird dann vielleicht allgemein wer-
den, der Homers Ilias und Shakespeares Troilus so gegeneinanderstellt:
ein von Natur Hohes und von Natur Niederes, beides von gleichem Meister
in gleich erhabenem Stil gearbeitet. Was so von ganzen Stücken und
von Hauptrollen gilt, gilt von den Nebenrollen ganz besonders, für die
erst nach und nach die Liebe der Schauspieler geweckt wird. Ich selbst habe
mich srühzeitig an Romeo und Othello, Macbeth, Hamlet, Percy und Mark
Anton versucht, spater an Cassius und Prospero, aber die gleiche Freude
und eine tiefere Genugtuung empfand ich, wenn ich — meist in einem
höchst kostbaren Rahmen — Tybalt, Macduss, den ersten Schauspieler, den
Erzbischof von Pork, den Bischof von Karlisle, Iames Tyrrel, den Herzog
von Lornwall, Camillo, den Ierzog Orsino und Lord Lscalus (Maß für
Maß) — ich dars dabei wohl sagen — „aussüllen" durfte. Wer von den
Lesern weiß im Augenblick, wo alle diese Kleinodien zu finden sind! Und
es sind Kleinodien, die so gut in Shakespeares Krone gehören wie die
der tausendversigen Charaktere. Alle sind sie notwendig fürs Ganze und
notwendig in sich. Der Darsteller muß ihr Verhältnis zur Natur, das
absolute, und ihr Verhältnis zum Stück, das relative, empfinden, um
wahrhaft Shakespearisch und um selbstschöpferisch zu sein.

Seit Robert Greenes Tagen, der in einer Schmähschrist gegen den ersolg-
reichen Mitwerber, den Schauspieler-Dichter Heinrichs VI., die ehrsame
Versmacherzunft ausrief, hat der verknöcherte Teil der Welt immer wieder
Anstoß daran genommen, daß hier einer Schicksale rhythmisch gestaltete,
ohne gleichzeitig ein Buch über Metrik zu schreiben; daß einer Iistorien
in Dialoge brachte, ohne Geschichtsforscher zu sein. Endlich, im (9. Iahr-
hundert, fand man sogar den andern Linen, der mit genügender Gelehr-
samkeit ausgestattet zu sein schien, um auch den Ruhm des größten Dich-
ters tragen zu dürfen. Francis Bacon, der Philosoph, der Naturforscher,
ward als Lrsatz ausersehen. Ilnd eine neue Shakespearebücherei wuchs
empor. Mich hat bislang keines ihrer Kryptogramme überzeugt. Wohl
aber fühle ich immer stärker, daß das Werk, was unter Shakespeares
Namen durch Zeiten, RLume und Seelen schreitet, einen ganzen Men-
schen und sogar einen der größten Menschen ganz erfordert und nicht im
Nebenamte wie eine Liebhaberunterhaltung erledigt werden kann. Man
zeige mir unter den freilich ungeheuren Kenntnissen, die über die sieben-
unddreißig Stücke verstreut sind, die eine Stelle, die von der Marter eines
vorhergegangenen wissenschaftlichen Experimentes Zeugnis gäbe; man er-
kläre mir anderseits die kleinen abergläubischen öder leichtgläubigen Versehen,
die mit zehn Fingern auf einen ungelehrten Verfasser hindeuten! Wir
wissen von dem Schauspieler Shakespeare genug, um ihm das Werk des
Dichters Shakespeare zuzutrauen. Ich habe in Osterreich einen von dichte-
rischen Gaben erfüllten Freund, auf den der Ben Ionsonsche Bildungs-
steckbrief für Shakespeare auch paßt: wenig Latein und noch weniger
Griechisch. Er hat sein Leben lang nichts andres getan als meiner
Äberzeugung nach der große Brite in seinen Knabenjahren auf die
Natur geachtet, bis er die Blütenstunden der Pflanzen, die Hecke-
zeit der Vögel, den Lieblingsstand der Fische erkundet; mit Hand-

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