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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,3.1916

DOI Heft:
Heft 14 (2. Aprilheft 1916)
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Walzel, Oskar: Cervantes
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https://doi.org/10.11588/diglit.14293#0078

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Kinder der gegensätzlichsten Teile der Erde sich zusammensinden können
in gemeinsamsr Hochschätzung einer dichterischen Schöpsung, in gleich-
mäßigem Verständnis für ein einzelnes Kunstwerk. Wir aber lernen seit
dem August Zwar manches besser begreifen, was uns zuletzt nur in
blasfen Umrissen noch vorschwebte. Es gewinnt Leben und Gestalt, es
wird zu einem neuen machtvollen Erlebnis. Dagegen klingt es uns wie
ein Märchen, daß Völker, deren innerer Widerstreit sich heute in ungeahn-
tem Umfang offenbart, jemals zusammentreffen konnten in der Bewunde-
rung einer Dichtung; und diefer Dichtung hatten vor allen deutsche Dichter
und Deuter den Weg gebahnt zu den letzten und fernsten Bildungsstätten
unserer Welt.

Deutsche waren einst Wiedererwecker Shakespeares, Deutsche sind an der
Wiedergeburt des Don Quijote ganz wesentlich beteiligt. Wohl waren die
Hemmnisse, die dem Spanier im Wege standen, leichter zu beseitigen. Es
galt nicht, das Vaterland des Dichters eines Besseren zu belehren, wie es
tatsächlich in Sachen Shakespeares nötig gewesen war. Aus eigener Kraft
hatte Cervantes sich überdies längst auch in Frankreich durchgesetzt. Das
Unvergleichliche des Don Äuijote ist die fesselnde Kraft, die er auf den
Einfachen und Schlichten wie aus den geistig und seelisch Verfeinten unter
fast allen Himmelsstrichen ausüben kann. Er ist von ungemeiner Ver-
ständlichkeit und dennoch ein Kunstwerk. Er erweckt von vornherein viel
weniger Widerspruch als Shakespeare oder Goethe. Ihm kommen ästhe--
tische Vorurteile nicht in den Weg, die gegen Shakespeare und Goethe
gern ausgespielt wurden. Ihm droht eher der Einwurf, daß er zu selbst-
verständlich sei, zu allgemein zugänglich, als daß er auf die gleiche Stufe
treten dürfte mit der Tragödie Athens, mit Hamlet oder mit Faust. Die
entscheidende kritische Leistung, die an Don Äuijote zu wenden war, lag
in dem Nachweis, daß Cervantes mehr zu geben hatte als ein unterhalt-
sames Buch für jedermann, als einen allgemein fesselnden, einen markt-
gängigen Roman. Diese Leistung boten Deutsche, und zwar in einem
Ausmaß, das vielen, sogar vielen Deutschen übergroß erscheint.

Die Fülle von Gedanken und Deutungen, die in Deutschland an Cer-
vantes und an Don Quijote gewandt worden sind, ist in sauberer Ordnung
zu überblicken in dem dicken Buch des Franzosen I.-I. A. Bertrand. Es
trägt die Iahreszahl und gehört mithin wohl bis auf weiteres zu den
letzten französischen Arbeiten, die sich vorurteilslos in den Dienst deut-
scher geistiger Leistungen stellten. Die fast siebenhundert Seiten des Buches
„Cervantes et le romantisme allemand^ bezeugen obendrein von neuem
den Brauch der jüngsten französischen Wissenschaft, nach einem deutschen
Vorbild, das auf deutschem Boden selbst fast wie etwas Vergangenes und
Aberwundenes erscheint, einen umsangreichen, aus vielen und entferntesten
Quellen zusammengetragenen Stoff auseinanderzulegen, an die Darstellung
indes nicht die Mittel zu wenden, durch die ein Vorgang des Geisteslebens
den Eindruck reichbewegten, fast spannenden Lebens gewinnt. Eine Stoff-
sammlung mehr als ein Buch im strengen Sinn des Wortes, harrt
Bertrands fleißige Vorarbeit des Mannes, der von höherer Warte den
rechten Gewinn aus ihr zieht. Ihm wird es vielleicht glücken, den engen
Gesichtswinkel zu überwinden, von dem aus Bertrand ganz wie die Fest-
literatur des Iahres V05 das Problem betrachtet, ob und wieweit deutsche
Romantiker recht hatten, als sie dem Don Quijote einen tieferen Sinn
unterlegten.

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