Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,3.1916

DOI Heft:
Heft 16 (2. Maiheft 1916)
DOI Artikel:
Nidden, Ezard: Zehn Jahre nach Ibsens Tod
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14293#0175

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Indessen, tut man einem Dichter, einem Künstler, der nie gedankew-
politisch mit abstrakten Worten, der immer durch sein Werk diese geistige
Welt bewegte, mit solcher Feststellung nicht unrecht? War Ibsens
Denken denn sein eigentliches Schaffen — gleichviel ob es nun in
Leitsätzen bestanden habe oder in einer gewaltigen Welle mannigfacher
Fragestellungen und tiefer Anregungen —, war nicht vielmehr Dich-
tung sein letztes Ziel? An diese Frage kettet sich, wenn ich recht sehe,
das Ibsen-Problem, dem wir heute, zehn Iahre nach seinem Tode, nach-
zudenken haben. Stellen wir zunächst fest, daß Ibsen jahrelang von Tau-
senden als „Thesendichter" aufgefaßt wurde. Noch Walzels kleine Ibsen-
Schrift (Insel-Bücherei No. 25) tritt dieser Meinung als einer allgemein
verbreiteten entgegen. Findet man nun, daß diese Auffassung sich eigent-
lich selbst erledige, da ja Ibsen sich offenbar selbst widersprochen habe —
etwa in dem Dramenpaar „Volksfeind" und „Wildente" oder „Puppen-
heim" und „Gespenster" —, so bleibt doch unter allen Nmständen bestehen,
daß es der „Gedankeninhalt" der Ibsenschen Stücke war, der die Welt
bewegte. Der Aussatz „Ibsen als Denker" von Platzhoff, der vor zehn
Iahren im Kunstwart erschien, zeugt lebhaft hievon. Noch einen Schritt
weiter von der „Thesen^-Ausfassung entfernte sich damals Avenarius mit
der Grundanschauung, nicht der Inhalt sei der ausschlaggebende Wert in
Ibsens Werk, sondern der „Gehalt", ein Wort, das etwa andeutet: selbst
wenn alle Gedanken Ibsens derworsen würden, die Tat dieses Großen lag
in seiner sittlichen Gewalt, in der FLHigkeit, zu sittlichem Denken schlechthin
anzueifern, indem er Menschen von recht eigentlich sittlicher Nachdenklich-
keit und dramatische Begebenheiten schuf, die mit moralischer Spannung
bis zum Außersten geladen waren. Nnd wenn auch die Folgezeit manchen
Versuch brachte, die Aufmerksamkeit von Ibsens Denken auf sein Dichten
abzulenken, von den Problemen seiner Dramen und den Gedankengängen
seiner Gestalten mehr ab- und dasür mehr hinzusehen auf ihre lebendige
Wesenheit, so steht doch fest, daß kein ernster Betrachter Ibsens möglich
ist, der nicht Ibsens denkerisches Forschen, Fragen, Ausklären mit im Kern
seines Wesens sähe. Wohin aber zielte dies? Hören wir Platzhoffs An-
sicht: „Kein Dichter Europas hat das ethische Problem vom Individualis-
mus und Sozialismus so scharf beleuchtet, keiner für die Klärung der Frage
so viel Material beschasst." „Die Gesellschastsdramen stellen die Lebens-
fragen unserer Zeit konkret dar; die Historischen Dramen die Lebens-
fragen aller Zeiten." Gerade diese Feststellung führt uns aber zu dem
eigentlichen Kern des heutigen Ibsen-Problems. Denn die zehn seither
verflossenen Iahre Haben genügt, uns sehr weit von der Zeit zu entfernen,
die Platzhoff „unsere" nannte. Und in dieser Beziehung gilt jedes Kriegs-
jahr zehnfach. Ich meine nicht etwa, daß der Prozeß heute zu ungunsteN
des Individualismus enffchieden sei. Lr gehört nicht zu den Iahrzehntsragen.
Aber er wandelt sein Gewand. Gestalten wie Nora, Bernick, Stockmann,
Mortensgard, Wrangel, Oskar Alving und viele andre sprechen so deutlich
die Sprache einer bestimmten Zeit, erleben so deutlich ihre sittlichen Zwie-
spalte an Erlebnissen, die nur dieser Zeit angehören, daß sie vielleicht heute
schon eher geschichtlichen Reiz als den Reiz der Gegenwartschilderung aus-
üben. Nnd damit wäre es denn um den Dichter der Gesellschaftdramen
geschehen. Wir können diesen Gedankengang noch wesentlich erweitern.
Seit Ibsens Tode ist vieles gesagt worden, wodurch das besonders Nor-
wegische seiner Gesellschaftdramen gekennzeichnet wurde; mancher glaubte
 
Annotationen