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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,3.1916

DOI Heft:
Heft 16 (2. Maiheft 1916)
DOI Artikel:
Nidden, Ezard: Zehn Jahre nach Ibsens Tod
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https://doi.org/10.11588/diglit.14293#0177

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iinmer mehr zu verraten, daß sie nicht im Wort, in der Anschauung fest-
gewordnes Leben sind, sondern Zubehör in Ibsens dramatischem Lebens-
werk. Ahnliches glanben Viele, sogar Ibsens Biograph Woerner vom
Symbolismus seiner Alterswerke; ich erörtere diese schwierige Frage ab-
sichtlich nicht. Ls kommt mir hier daraus an, ein gewisses Maß von
Veralten an Ibsens Werken zuzugeben, ausdrücklich anzuerkennen und
es zu erklären. Erst nachdem wir dies getan, werden wir befugt und
befähigt sein, das noch immer Geltende seines Schafsens hervorzuheben
und in vollem Amfang zu erarbeiten.

Ls kostet so geringe Mühe: blasen wir die dünne Staubschicht hinweg,
die sich darauf gelegt hat! Ibsen, der sich einst mit Herrschergebärde
seiner Zeit aufzwang, läßt sich nun etwas suchen. Haben wir aber die

Bände Ibsen durchgearbeitet, so steht auch heute eine so monumentale
Persönlichkeit vor uns, daß ihr gegenüber das Wort „Veralten" gar
keinen Sinn mehr hat. Line Persönlichkeit, ausgestattet mit der unheim-
lichen Krast des Gestalters nnd der noch unheimlicheren Gabe, die Lebens-
probleme in aller Tiese zu erleben. Man hat Ibsen als vorzüglich reli-
giösen Denker, als Sozialethiker, als Gesellschastkritiker, als Ethiker schlecht-
hin und als noch manches andre ausgefaßt. Alles das ist möglich. Es
kommt nicht auf das Wort an. Die eine ungeheure Frage lastete auf
ihm und zwang ihn zu immer neuen Teilfragen: wie wir überhaupt „leben"
können, welche Lösnng es sür die Ausgabe gibt, die Iahre eines Erden-
daseins auszufüllen. Dabei traten Aeligion und Saint-Simonismus,
die Lthik der Wahrhaftigkeit und die Lthik der Kraft, der Wille zur
Macht und der Wille zur Liebe in seinen Gesichtkreis — und vieles andre.
Man wird kein System mit vollem Fug aus seinem Werk herauslesen,
weder das Gesicht vom dritten Reich noch der unsäglich ergreifende Blick
der Wehmut auf ein mögliches Leben der Liebe, den er im Epilog eröffnet,
sind Ibsens Lebenslösung. Vielleicht, wäre er achtzig Iahre in voller
Kraft gestanden, so wäre er zu einer Entscheidung gekommen. Wahr-
scheinlich ist auch das kaum. Die Welt sieht Millionen von Menschen,
denen das Leben eine sraglose Selbstverständlichkeit ist; daneben Tausende,
die an seinem Rätselwesen endlos leiden. Zu den Leidenden gehört
Ibsen als ein Erwählter, der sehend leidet, sein Sehen aber zum Schauen
steigert und sein Leiden in Monumenten hinstellt. Hierin liegt das Un-
vergängliche seines Werkes. Dieses Thema hat immer seine Hörer. Ein
solches Leben ist immer der Teilnahme eines großen Menschenkreises ge-
wiß. In der Gesamtheit von Ibsens Werken spiegelt es sich mit unerhörter
Klarheit. Kaum zwei oder drei Menschen von der Bedeutung Ibsens gehen
so restlos in ihrem Schassen ans wie er, scheinen durch Briefe, Biographie
und Selbstzeugnisse so wenig mehr erläutert als durch ihre Werke.
Diese Gesamtheit gehört nicht mehr der Literatur allein an. Unsre Fach-
abgrenzungen versagen hier, denn auch Philosophen, Ethiker, Soziologen
werden Ibsen als Fachgenossen ablehnen. Der Unterschied liegt in der
Methode, im Ziel, nicht im Gegenstand. Ibsen fteht es nicht auf er-
schöpsende Behandlung aller Möglichkeiten eines Problems und nicht
anf eiu System ab. Die Fülle des Schauens, das mühsame Gestalten-
müssen, das mehr Zeit braucht als das Abstrahieren, sie hindern ihn daran.
Aber der Gegenstand, das Lebensrätsel, ist ihm mit Platon und Spinoza
wie mit Eomte, Spencer oder Nietzsche gemein, und auch mit einigen,
die man gleich ihm „Dichter" zu nennen Pflegt.
 
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