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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,3.1916

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Heft 16 (2. Maiheft 1916)
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Rauh, Sigismund: Pädagogische Kultur
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https://doi.org/10.11588/diglit.14293#0184

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ziehung soll einen Menschen fnr alle menschlichen Verhältnisse befähigen",
aber er nimmt ihm sogleich alle praktische Bedeutung: „nur ist es weniger
vernünstig, einen Armen für den Reichtum, als einen Reichen für die
Armut zu erziehen, denn es gibt im Verhältnis mehr Verarmte als Reich-
gewordene. Wir wollen also einen reichen Zögling wählen." Uns scheint
es unhumanistisch und undemokratisch, seine pädagogischen Grundsätze der
aufhorchenden Welt nur in der Anwendung aus die höheren Stände dar-
zubieten; bedars es doch eingreifender Anderungen, wenn man die Lehren
seines „Lmil" auch nur auf den wohlhabenden Mittelstand übertragen
will. Pestalozzi aber, der deutsche Aufklärer, der praktisch wirksame Aus-
klärer, will nicht einmal allgemein menschliche, er will noch geradezu
Standes-Bildung. Gertrud besähigt ihre Kinder bewußtermaßen nicht
„sür alle menschlichen Verhältnisse", sondern sie erzieht sie systematisch
für ihren Stand, für den Beruf des bäuerlichen Handwerkers. Und um
den dritten für unsere Pädagogik klassisch gewordenen Lehrer aus der
Nach-Aufklärungszeit noch zu erwähnen: Herbart erzieht Gelehrte, er küm-
mert sich um die Aufgaben der „Volkserziehung" gar nicht, er sieht sie
überhaupt nicht. So sehr auch sein Bildungsideal humanistisch sein soll, es
ist nur ein tzumanismus sür Akademiker. Alles, was er zur Lrziehung sagt,
stammt aus gymnasialer Ersahrung (auch Privatunterricht kann natürlich
in diesem Sinne gymnasial sein) und dient sür gymnasiale Zwecke — also
bei der damaligen Bedeutung des Gymnasiums für Gelehrtenerziehung.

So in der Theorie der fortgeschrittensten Geister — und nun gar in
der Praxis! Die Erziehung war damals noch überwiegend Hauserziehung.
Schon damit war sie notwendig ständisch. Auch in unserer gleichmacherischen
Zeit erziehen Väter und gar Mütter ihre Kinder in den Aberlieferungen
ihres Standes. Davon absehen kann nur die Schule, die ösfentliche Schule.
Aber auch die Schulen paßten sich den Standes-„Vorurteilen" an: Ritter-
akademien, Gymnasien (als Aniversitätsvorschulen), Bürgerschulen, Höhere
Töchterschulen, Militärwaisenhäuser, Armenschulen, das sind so einige charak-
teristische Bezeichnungen jener vergangenen Zeit. Das Allgemeine Land-
recht bestimmt (II, (2, Z H6): „Der Schulunterricht muß solange sortgesetzt
werden, bis ein Kind nach dem Befunde seines Seelsorgers die einem jeden
vernünstigen Menschen seines Standes notwendigen Kenntnisse ge-
faßt hat." Das Aufklärungsideal der allgemeinen Gleichheit, das schon
in der Theorie nur als Programmsatz, nicht als leitender Gedanke der
Ausführung austritt, ist in der Praxis ganz und gar Ntopie geblieben.

Bis in unsere Zeit!

Wir aber haben damit Ernst gemacht. Die Scharen der nach „allge-
meiner Bildung" Begehrenden haben die historische Form des Gymnasiums
gesprengt, haben es mit den ihrem Ursprung nach ganz anders gearteten
Real- und Bürgerschulen zu einem sür unsere Zeit ganz charakteristischen
Begriff verschmolzen: zu dem der „Höheren Lehranstalt^. Ungenau in
der Grenzbestimmung — das eben muß eine Schule, eine Erziehungsstätte
der gleichmachenden Pädagogik sein. Künstige Gelehrte, Politiker, Tech-
niker, Kaufleute, Großgrundbesitzer, Beamte, höhere wie mittlere, und
wer sonst Lust hat, junge Leute der verschiedensten tzerkunft und der ver-
schiedensten Richtungen beziehen die drei Arten höherer Lehranstalten.
Die einzelnen Gruppen zeigen wohl eine gewisse Vorliebe für die eine
oder andere Art, aber nicht so stark, daß sich eine Standes-Abgrenzung
bilderr könnte — alles das verschwimmt.
 
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