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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,3.1916

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Heft 18 (2. Juniheft 1916)
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Schumann, Wolfgang: Von den Aufgaben des Theaters
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https://doi.org/10.11588/diglit.14293#0287

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weder Lessing, Goethe, Kleist, Schiller, hebbel noch Ibsen, Björnson, Tol-
stoj, Hauptmann, Scholz, Schönherr von den Bühnen verdrängt, auf die

das meiste ankommt. In den größten Städten hat es auch in dieser viel-

geschmähten Zeit immerhin Theater gegeben, die Iahre hindurch im
Wesentlichen geistige Werte „umsetzten" und gerade deshalb auch ge-
schästlich umsetzen konnten, weil das Bedürfnis nach Vergnügung
und Zerstreuung von den andern gedeckt wurde und die Großstadt immer
noch genug Publikum auch für höhere Interessen übrig hatte. In den
mittleren Städten gelten aber der Absicht nach wenigstens einige Abende
der Woche heute dem gleichen Zweck. Man muß freilich nicht nur an
die Ausbreitung von „Gedanken" durch das Theater denken oder an den
„Unterricht in modernem Leben"; beides ist zwar wichtig genug; wichtig
ist auch die Bedeutung des Theaters als Volksbildungsstätte für die

Freude an Charakteristik und den Sinn an all den verschiedenen ästhe-

tischen Werten sonst, welche eben die Bühne vermittelt. Wichtig ist sie
besonders dort, wo auf einen großen Landbezirk nur ein größeres Theater
kommt, wie in Dresden. Die Pflege der Volksaufführungen gehört hier
zu den schönsten Aufgaben. Aber es sind noch andre, allgemeinere Er-
lebnisse, die das Theater von Rang vermittelt. Gregori schrieb einmal:
„An jedem Abend ist wenigstens ein Mensch unter der Menge, dem sich
das Theater zum ersten Male ösfnet, und der für sein ganzes künstiges
Leben einen neuen Grundstein der Freude legen will." Man braucht
kein besonderer Iugendkenner zu sein, um zu sühlen, welche Verpflich-
tnng für die Verantwortlichen diese einsache, gar nicht übertriebene Vor-
stellung in sich schließt. Freude allein ist aber auch wieder nicht alles.
Wenn heute einer im Schützengraben überdenkt, was er eigentlich da
in Blut und Schlamm verteidigt — wir glauben: manchem wird dann
einsallen, daß er einmal den Faust oder den Prinzen von tzomburg oder
den tzamlet oder Rosmersholm sah, daß er solche Werke als Blüten einer,
als Blüten seiner Kultur empfand, daß er sich bewußt wurde, solche Er-
lebnisse waren nur möglich, nachdem unsere ganze Kultur den Stand er°
reicht hatte, um dessentwillen wir ihr zu innerst verknüpft sind. Die ein-
fache Tatsache, daß ich am Abend hingehen und in ruhiger Sammlung
geistige Werte auf mich wirken lassen kann, daß dabei Anschaulichkeit
und tzörbarkeit des Dramas und Vergemeinschaftung mit den Zuschauern
mir die Empsänglichkeit aufzwingen, die ich allein im Lehnstuhl meines
möblierten Zimmers nicht aufbrächte — dies allein bedeutet mehr als
der noch so kulissenkundige Skeptiker begreifen kann.

Es bedürfte eines Buches, um solche Gedanken zur „Soziologie des
Theaters" soweit auszuarbeiten, daß sie zwingend erschienen. Iier, wo
nur ein kleiner Zweck-Auszug aus diesem ungeschriebenen Buch auf die
Gefahr hin gegeben werden kann, sehr trivial zu erscheinen, muß eine
Erinnerung an das Wichtigste genügen. Was ergibt sich daraus? Zu-
nächst dieses: der Leiter eines großen Schauspielhauses muß solchen Ge-
danken und Gesinnungen bis zu dem Willen zugänglich sein, ihnen vor
allen andern zu dienen.

Für die praktische Aufgabe aber bedarf es der Einsicht, daß nur ein
an jedem ernsten Abend gleichmäßig gediegener Theaterbetrieb den
Anforderungen an die Kulturhöhe einer solcken Bühne entspricht. Im
Theater hängt alles aufs engste zusammen, die Neuigkeitenwahl mit der
Ausführungsleistung, der Spielplan mit der Regie, die Regie mit dem

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