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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 29,3.1916

DOI Heft:
Heft 18 (2. Juniheft 1916)
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Bekker, Paul: Max Reger
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https://doi.org/10.11588/diglit.14293#0293

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als alle übrigen inusikalischen Zeiterscheinungen und der seiner Musik
die großeu produktiven Wirkungen versagt. Es gibt nicht ein einziges
Werk von Reger, das in seiner Wirkung imstande wäre, über die augen-
blicklichen Lindrücke einzelner, an sich oft groß empfundener Lingebungen
hinaus dauernd festzuhalten, den Hörer, sei es durch Empsindungsentwick-
lung, sei es durch Stimmungsreize zu binden, sich mit der Äberlegenheit
der schöpserischen Krast ihm als Ganzes auszuzwingen. Und doch war
eine starke musikalische Kraft in Reger lebendig, eine Kraft, die mit trieb-
haster Iknersättlichkeit nach Betätigung drängte, die nach allen Seiten
überströmte. Aber sie war nicht fähig, aus sich selbst ein Ziel zu ge-
winnen, das ihrem Betätigungsvermögen angemessen war und sie zu
aufsteigender Entwicklung gebracht hätte. Diese merkwürdige Vereinigung
von Schassenskraft und Mangel an gestaltender Fähigkeit, von urwüchsiger,
in einzelnen Augenblicken dämonisch ausbrechender Begabung und tasten-
der Unsicherheit des Willens läßt sich nicht kurz mit der beliebten Formel
von dem hohen technischen Können und der gering entwickelten Empfin-
dung erklären, einer Formel, die zwar Reger gegenüber häusig ange-
wendet wird, aber gerade hier besonders unangebracht ist. Denn nicht
an Empsindung mangelte es Reger — seine Werke sind überreich daran
und sein ganzes Musikertum ruhte aus dem steten Fluß der Empsindung.
Woran es ihm gebrach — das war die Kunst, diese Empsindung in klar
stilisiertem Bilde zu sassen, ihr die Form zu sinden und zu geben, durch
die sie erst zur Kunst wurde. Diese FLHigkeit des Formenbildens, die den
Künstler macht, fehlte Reger, und so war er gezwungen, sich an die Formel
zu halten, in deren spekulativer Durchbildung er ein Entwicklungsziel zn
sinden vermeinte.

In Wahrheit ist die Entwicklung, die uns Reger als Künstler gebracht,
nicht Lntwicklung im Sinne des Fortschreitens, sondern des Zersalls.
Alles das, was wir Reger an scheinbarer Erweiterung des musikalischen
Ausdrucks zu danken haben: in erster Linie die bis zum völligen Zersließen
der Farben gesteigerte Beweglichkeit des harmonisch-modulatorischen Ele-
mentes, ist die spielerische, im Grunde ihres Wesens nicht aus Verfeine-
rung, sondern aus Itnklarheit und Unsicherheit des Anschauens beruhende
Auslösung gegebener, organisch gewachsener Formen in ihre Atome, eine
Auslösung, die zwar durch die Art der intellektuell-spekulativen Zersaserung
einen gewissen Stil gewinnt und auch einen Nervenreiz auszuüben ver-
mag, der aber eine schöpserische Wirkung naturgemäß versagt bleiben muß.
Vermochte dieses Atomisierende der Musik Regers auf harmonischem
Gebiet noch durch spekulative Entdeckungen scheinbar Neues zu schaffen,
so hatte es im rhythmischen Ausdruck eine bis zur molluskenhasten Ver-
schwommenheit sich steigernde Verweichlichung zur Folge, während die Me-
lodik ebensalls in Splitter und Splitterchen von Ideen zerfasert wurde
und zu selbständigem Leben überhaupt nicht gelangen konnte. Reger hat
den Versuch gemacht, in den ,.Schlichten Weisen" wieder den Weg zur
Bildung plastisch individueller Melodien zu finden, ohne mit diesem Ver-
such eine wirkliche innere Neubelebung seiner Schaffensweise gewinnen
zu können.

Daß diese auf die Nachahmung alter Formen beschränkt bleiben mußte,
ergab sich als notwendige Folge des stilistischen Auflösungsprinzips der
Musik Regers. Nur die alten kräftigen Formen mit ihren starken Gliede-
rungen und sesten Nmrissen konnten einer solchen Musik überhaupt die

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