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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,1.1916

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Heft 3 (1. Novemberheft 1916)
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Herter, Hans: Zu der Fragestellung: Rußland oder England?
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https://doi.org/10.11588/diglit.14295#0173

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zu Kant auch politisch gedacht und gewirkt haben, daß irgendeine Lebens»
ordnung von sinnvoller Bildung stets auch sür die ideale Betätigung des
Menschen Raurn hat und nicht nur das Wohl seines Bauches betreffen
kann. Diese Tatsache ist es, welche in sich schließt, daß ein außenpolitisches
Prograrnm nie ohne ein innerpolitisches auftritt.

Für die Beurteilung tagfälliger politischer Fragen aber ergibt sich
daraus, daß wir gehalten sind, jeder politischen Bestrebung auf den Grund
zu gehen, bis wir das ihr innewohnende Ideal einer Lebensord»
nung in seinen tzauptzügen erkennen. Allgemein verpflichtet dies dazu,
sich über das Wesen und die Tatsachen möglichst vieler Lebensordnungen
klar zu werden. Im Besonderen aber dazu, auszusinnen, welche Ände«
rungen unsrer Lebensordnung durch bestimmte politische Entscheidungen
gefördert werden würden. Nehmen wir etwa als ein Ziel eine „mittel-
europäische Lebensordnung" an, eine Ordnung der wirtschaftlichen, zwischen*
volklichen, geistigen Verhältnisse wie sie Naumann befürwortet, so wird
sich für die Frage „Rußland oder Englandbald ergeben, ob uns die eine
oder die andre Entscheidung diesem Ziel näher bringt. Sie kann uns
ihm aber auch etwa wirtschaftlich nähern und zugleich geistig von ihm ent-
fernen. In dem Fall, daß der Friede die Mittelmächte mehr an Rußland
annähert und mehr von England entfernt, könnte Folgendes eintreten:
die Annäherung würde vor allem auf Wirtschaft und Verkehr sich be»
ziehen, eine größere Anzahl von Bürgern der Mittelmächte würde mit
Russen in persönliche Beziehung treten und von russischen Gedanken und
Anschauungen beeinslußt werden; soweit sie nun, wie etwa die mitteleuro«
päischen Slawen, russischem Einfluß zugänglich wären, würden sie dem
Geiste eines Mitteleuropa, das als abgeschlossenes, den osteuropäischen
Einsluß abwehrendes Staatengebilde eigner Lebensordnung gedacht ist,
entfremdet werden. Das vertrüge sich mit wirtschaftlichem Gewinn
ganz gut. Es ist endlich nicht zu verkennen, daß der Friedens-
schluß nicht notwendig langfristige Gebundenheiten der Frieden-
schließenden aneinander mit sich 'bringt; selbst dann nicht, wenn er
ein Teilfriedensschluß sein sollte. Ein Friedensschluß ohne langfristige
gegenseitige Bindungen ist vom SLandpunkt der Gesamtpolitik — das
heißt hier: der äußeren und inneren wirtschaftlichen und geistigen —
natürlich ganz anders zu beurteilen als ein mit zahlreichen Zukunftfesseln
verknüpfter.

In solcher Weise scheint mir eine Untersuchung der Frage „Rußland
oder England?" wünschenswert. Eine gute Kenntnis russischer, englischer
und deutscher Lebensordnung, ein möglichst sicheres Wissen darum, was
es für Deutschlands und der Welt Lebensordnung bedeuten würde, wenn
das Reich mit Rußland oder mit England „zusammenginge^, das heißt:
in welchen tzunderten von wirtschaftlichten, innerpolitischen, soziologischen,
sozialen, geistigen Erlebnissen, in welchen Wendungen unserer „Lebens-
ordnung^ sich eigentlich die Folgen eines einseitigen Friedensschlusses
überall zeigen würden, das scheint mir politisch wesentlich. Vielleicht
wird sich dann ergeben, daß diese Dinge ein viel breiteres und tieferes Stu-
dium ersordern, als in ein paar Wochen zu leisten ist. So wie etwa die
Frage „Monismus oder Dualismus" auch jeden Ernsthaften länger als
ein paar Wochen beschäftigt. Das Bewußtsein solcher Erfordernisse
zu erwerben und zu verbreiten, eben das ist, wie mir scheint, die Forderung
der Zeit an die politisch Denkenden, die sich nicht von Schlagworten
 
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