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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 30,4.1917

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Heft 21 (1. Augustheft 1917)
DOI Heft:
Heft 22 (2. Augustheft 1917)
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Zeitenwende für unser Vaterland?
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https://doi.org/10.11588/diglit.14298#0170

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Sturz Bethmanns — ein Vorgang, der dnrch das, was „auf der Hand^
liegt, noch lange nicht erklärt ist in dem, was in den Tiefen lag. Wir
denken wieder an die „Kompliziertheit des Apparats". Das dritte Ergeb--
nis ist die neue Mehrheitsbildung im Reichstage, ein Versuch, überhaupt
eine feste parlamentarische Mehrheit regierungsfähig zu bilden. Hier ge«
schah vielleicht politisch das Wichtigste — vielleicht. Noch ist es politisch
nicht zu übersehen, denn schon melden sich Gegenströmungen (Bundesrat)
und Gegeninstanzen (Verfassung), die der typischen Wirkung der Mehr--
heitsbildung, dem Parlamentarismus, entgegen sind.

Was von alledem könnte eine „Zeitenwende" bezeichnen? Ein Kanzler-
wechsel gewiß nicht. Auch die Wahlrechtsreform, so laut gejubelt und ge«
klagt wird, ist zweiten Ranges, solange Regierungen und erste Kammern
gleichberechtigt mitsprechen. Wohl aber könnte eine politische Zeitenwende
einleiten der Versuch zur Parlamentarisierung und zur tiesgehenden Politi-
sierung des Volkes.

Wenn wir uns mit dem „Parlamentarismus" englischen oder französi--
schen Zuständen nähern müßten, so würden wir unserseits das für bedenk-
lich und schlimmer als bedenklich halten. Aber es kann verhindert werden.
Wir haben den Vorteil der Späterkommenden, die Erfahrungen der Andern
beobachtet zu haben und benutzen zu können. So könnten wir wählerisch
und schöpferisch zugleich einen eigenen deutschen Parlamentarismus
entwickeln.

Für dessen ideelles Ergebnis seien hier einige Wünsche verzeichnet.
Wir wünschen:

Eine größere Klarheit der politischen Machtverhältnisse im Reich —
eine reinere politische „Ausdruckskultur". Was geschieht, soll deutlicher
ausdrücken, welche Kräfte das Geschehene verursachen. Bis heute, noch
beim Kanzlerwechsel, liegen die Ursachen der wichtigsten politischen Vor-
gänge vielfach im Dunkel. Es übernahmen nicht diejenigen öffentlich die
Verantwortung, die tatsächlich etwas bewirkten. Eben darin kennzeichnete
sich die Struktur des Obrigkeitsstaates. Im Volksstaat kennt das Volk
Ursachen und Wirkungen tiefer. Und das ist die erste politisierende
Wirkung des Parlamentarismus. Nicht unerläßlich dazu wäre eine tief-
greifende Anderung der Verfassung, wenn auch ohne sie die nötigen Bürg--
schaften da wären,- in England zum Beispiel stehen wichtige Zubehörteile
des dortigen „parlamentarischen Systems" noch heute nicht in der Ver-
fassung. Wohl aber gehört dazu ein stärkeres Aus-sich-heraus-
treten der Parteien, mit andern Worten: eine größere Perbün-
dungskunst der Parlamentarier und ihrer Mandatgeber, um zusammen
mit Andersdenkenden gemeinsame Ziele zu erreichen. Wollen sie ernsthaft
mitwirken, so müssen sie sich von Fall zu Fall an der Machtbildung prak-
Lisch beteiligen. Dadurch tritt das doktrinäre Programmtheoretisieren zu-
rück, die echt-politische Arbeit in den Vordergrund, und das wirkt wieder
politisierend auf das Volk.

Man hat gesagt: alles komme jetzt auf den Reichstag an. In gewissem
Sinne: ja. Denn der Reichstag h a t seit Iahren schon eine ganz andere
Macht, als er gebrauchte. Es scheint, daß er sie nun gebrauchen, will sagen:

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