Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,1.1917

DOI Heft:
Heft 2 (2. Oktoberheft 1917)
DOI Artikel:
Schumann, Wolfgang: W. Rathenaus frühere Schriften
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14422#0082

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
dieser Lehre, der sich aus die Entstehung der neuzeitlichen Gesellschaft be--
zieht, ist nicht allzu gründlich aufgebaut. Aber den Vermehrungstrieb, das
Urphänomen seiner Theorie, sagt Rathenau nicht viel. Er erwähnt zum
Beispiel kaum, daß erst das Lintreten längerer Friedenszeiten und das
Sinken der Sterblichkeit — ein Ergebnis der Wissenschastentwicklung —
diesem Trieb freie Bahn gegeben haben. Auch verweilt er nur flüchtig
bei begünstigenden Umständen, wie dem Klima und der Wissenschaftent--
wicklung, oder bei den vielerlei Vorgängen, in welchen sich ältere Wirt-
schaftsormen, neben der Vermehrung herlaufend, in die der Mechanisierung
umgewandelt haben. Er gibt, mit anderen Worten, eine Teilhypothese,
die der Belehrung suchende Leser erst mit viel Mühe in eine Gesamt--
anschauung seinerseits hineinweben muß. Dafür ist aber Rathenaus Schil--
derung des Entstandenen, des Zustandes der Gegenwart, um so packender.
Den innersten Wesenszügen wie den äußerlichsten Anzeichen für sie wird
er gerecht, er beachtet ebenso das staatliche wie das Einzel-Leben, ebenso
die Denk-- wie die Arbeitweise, den Ablauf des täglichen Lebens wie den
der gesamten Gütererzeugung. Ilnd er schildert alles dies mit einer An-
schaulichkeit, die den Leser ganz in ihren Bann zwingt. „Streng wissen--
schaftlich" Denkende werden solchen Versuchen immer ein wenig mißtrauisch
gegenüberstehen. Nicht nur weil solche sich sozusagen auf die hauptmasse
der Erscheinungen beschränken, weil Nebenformen, Äbergangtypen, Gegen-
strömungen, die inmitten des mechanisierten Daseins auch uoch da sind,
hier ganz vernachlässigt werden. Vor allem, weil viele unbewiesene Be-
hauptungen vorkommen, weil nicht alles bis ins Letzte hinein zergliedert
wird, weil typische Dinge kurz geschildert werden, und weil die Wissen-
schaft eben solche Behauptungen weniger liebt als Analysen und große
Sammlungen von verschiedenartigen Stoffteilen. Das alles kaun nicht
hindern, anzuerkennen, daß dieses kühne, kraftvoll und geschickt entworfene
Bild der Gegenwart wahrhaft überzeugend gelungen ist, eben weil es
nicht verwirrend viele Einzelheiten, nicht jedes „Wellengekräusel" des Ge-
sellschastlebens enthält, sondern die beherrschenden Züge, den großen viel-
teiligen, aber wesenseinheitlichen Zwang herausstellt, dem wir überall
unterworfen sind.

Nach der Schilderung der Gegenwart fragt Rathenau in eineiu Ab-
schnitt „Das Sehnen der Zeit": Was ist der Sinn der Mechanisierung,
was ist ihr Wesen und Ziel? Er antwortet: Die ungeheure Verarmuug,
der wir verfallen sind dadurch, daß die Ideale der Masse denen der früher
Führenden übergeordnet wurden, wird als solche immer mehr erkannt
werden; herrschen Furcht und Zweckhaftigkeit heute vor, so werden wir
Mut und Zweckfreiheit wieder schätzen lernen, und wir werden nicht fort-
fahren, „Gesinnung zugunsten von Intelligenz zu vernichten". Die un-
geheure Äberproduktion an widerwärtigem Luxusgut, das uns der Natur
entfremdet, wird als „materielles Weltverbrechen" erkannt werden. Die
ungeheure Last, welche die Mechanisierung unserer Seele auferlegt hat,
wird zur Seite geschleudert, und Liebe zur Kreatur, zur Natur und zur
Gottheit werden wieder in ihr Recht eingesetzt werden. Die Entfesselung
der Seele beginnt mit dem heute überall wieder aufklingenden uralten
Wort: Achte auf deine Seele. Wir werden begreifen, daß die Seele
wachsen kann, daß sie aber auch verkleinert und vernichtet werden kann.
Die Not der Mechanisierung entspringt nicht physikalischen und klimatischen
Umwälzungen, sie ist von der Menschheit selbst geschaffen; sie führt aber
 
Annotationen