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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,1.1917

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Heft 4 (2. Novemberheft 1917)
DOI Artikel:
Bonus, Arthur: Vollender und Neuanfänger, [1]
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Roethe, Gustav: Luther und der Deutsche der Neuzeit
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https://doi.org/10.11588/diglit.14422#0159

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lich stetig der Reform bedarf. Ie näher der Oberfläche, desto geschwinder
rollt die Welt um ihre Achse. Die Volksreligion kann deshalb nur von
der Mystik aus richtig auf ihre Erträglichkeit oder Reformbedürftigkeit hin
beurteilt werden. Ie nachdem sie noch ein ungehindertes tzinabsteigen in
das Innenleben der Frömmigkeit, eben die Mystik, ermutigt und wenig-
stens gestattet oder es verbaut. Daher die Doppelseitigkeit in der Beurtei--
lung der Mystik: ihr Erstarken ist den einen eine Zersetzungserscheinung,
den andern ein Neuanfang. Es ist beides. Es bäumt sich in ihm das
innere Freiheitbedürfnis des Menschen auf, wenn die Volksreligion zu
verdorren beginnt, sie zersetzt sie, schluckt sie hinab und gebärt sie neu,
schlichter und unmittelbarer zurück.

Ein Mensch ist um so grötzer, je mächtiger und umfassender die Span--
nungen sind, die sich in ihm verwirklichen, und je bewußter er sie in seine
Tätigkeit zwingt. Luthern war die tiese Versenkung der Mystik nötig. Er
hat sich selbst von der Volks- und Kirchenreligion aus in sie hineingebohrt,
und es klingt wie Iubel des Wiedererkennens aus deu Worten, mit denen
er dann das Schriftchen des Deutschherrn wie eine bestätigende Antwort
aus dem inneren Heiligtum begrüßte. Aber er saßte mit ebenso großer
Kraft die nach außen gewandte Seite des Innenlebens an. Es ließ ihn
nicht in den Schächten der Mystik. Von dem Bewußtsein, das er sich
selbst errungen und dort bestätigt gefunden und vertieft hatte, fühlte er sich
hinausgetrieben, um die Volksreligion neu aufzugraben. Das machte
ihn wider sein Wollen durch das Schwergewicht seines Ausschreitens zum
Reformator.

Der Mystiker hat unter der bunten Wiese der Volksreligion die gleich-
mäßig dunkelfarbige Krafterde entdeckt. Lnther pflügte die Wiese auf-
jene einfachen Grundkräfte sollten bessere, ihnen gemäßere Menschennah-
rung tragen. Er legte auch die neue Pflanzung an, aber er ließ die
grasigen Schollen liegen, sie wuchsen in und um seine Pflanzung neu an
und überwuchsen sie bald. Das war das spätere Schicksal seines nicht zu
Ende gediehenen Werkes. Der Mystiker ist leicht gleichgültig gegen die
Nmwandlung der Außenwelt; das ist seine Gefahr. Er ist es, je nachdem
er jener nur den Gegensatz und das Nein empfindenden ersten Stufe der
Mystik nahebleibt oder auch auf sie zurücksinkt. Dennoch ist uns Luther
mit dieser seiner Gleichgültigkeit, mit der Gemütstiefe und Glaubenskraft,
die sie ihm bewahrte, wertvoller, als der in der Außenwelt herumfahrende
wütende Geist des Calvin, wenn dessen Schöpfung auch, näher der Ober-
fläche wurzelnd, früher hat aufgehen dürfen, während wir der unseren noch

(Schluß folgt) Bonus

Luther und der Deutsche der Neuzeit

schöpferische Lebenskraft großer Männer bewährt sich auch darin,
^^)daß sie über ihren Tod hinaus der lebendigen Entwicklung sähig
bleiben, das Antlitz wandelnd, mit dem sie neue Geschlechter an°
reden und anschauen. Wir sehen Luther heute anders als unsre Ahnen:
jede Gedächtnisfeier eines wahrhaft Fortlebenden beruht auf einer Wechsel-
wirkung, die ebenso Aufschluß gibt über die Feiernden wie über die Ge-
feierten.

Vor zweihundert Iahren, da man friedselig die Vereinigung aller christ-
lichen Kirchen träumte, vor einem Iahrhundert, da die heitere Selbstsicher-

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