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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,1.1917

DOI Heft:
Heft 6 (2. Dezemberheft 1917)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: "Der neue Geist"
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https://doi.org/10.11588/diglit.14422#0229

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sich, auch nur objektive Einführungen in den Gedankengang fremder Par°
teien und damit eine sachliche Vorstellung ihrer Aufgaben, wie sie sie
auffassen, in Blättern für die Massen gelesen zu haben? Hier braucht
es nicht nur eine Anderung des Tons, hier braucht es auch ein Umdenken.
Ein Begreifen, daß allerlei Fremdes so lange nötig ist, wie es sich
aus fremden Bedingungen heraus selber erzeugt. Solch ein Umdenken
kann sich nur von den Anterrichteten, den Gebildeten her allmählich in die
Massen verbreiten. Die Zeit dazu ist aber gerade jetzt so günstig, wie sie
vielleicht nie wieder kommt, da der Burgfrieden immerhin das schlimmste
tagtägliche Gehetz jahrelang unterbunden und so Schreiber und Leser
von Schnaps und Paprika wenigstens einigermaßen „entwöhnt" hat.

W?

/^in Umdenken sowohl wie ein Amfühlen brauchen wir aber auch für
^unser Verhältnis zu andern Völkern, zu den Nichtdeutschen. Wir setzen
Muskel und Nerv daran, daß unser Deutschtum erhalte, was es braucht,
und wünschen eben darum bis zu den Wurzeln hinab die Bündnisfähig--
keit zu pflegen, die Bündnisfreudigkeit zwischen Links und Rechts und
Mitte ohne Rücksicht darauf, ob die Früchte an unsern Bäumen blau,
grün, schwarz oder rot sind. Stehn sich Völkerinteressen von Lebenswichtig-
keit tatsächlich unvereinbar, nein: nur unverbündbar gegenüber, so wird
die Macht darüber entscheiden, welche vorgeht, so lange ein Verständigungs-
wille der einen Partei bei der andern mit Mißbrauch rechnen muß.
Dennoch haben führende Staatsmänner der Mittelmächte auch hier den
„neuen Geist" so angerufen, daß für den derlei Zeichen Verstehenden und
vielleicht noch sonst Anterrichteten der allertiefste Ernst daraus sprach.
Der Ernst könnte aus einem Zwang der politischen Lage kommen, der sich
öffentlich nicht erörtern ließe und deshalb hier ausscheiden müßte, auch
wenn wir (was nicht der Fall) darum wüßten. Er kann aber auch aus
allgemeinen Erwägungen stammen, die jeder anstellen kann. Ob weitere
Kriege kommen werden, weiß keiner, aber das wissen wir, daß sie Waller-
bergs „Selbstmord Europas" nahbringen könnten. Der wäre für Eng-
land, Amerika und Iapan sehr viel erträglicher, als für uns. Also müssen
wir alle mitsammen das Mögliche tun, um ein weiteres Sichzerfleischen
der Kultur in neuen Kriegen, wenn es sich überhaupt verhindern läßt,
zu verhindern. Wir dürfen keine deutschen Lebensinteressen aufgeben.
Aber wir müssen auf das allerernsteste prüfen: was ist von dem, was
andrer Völker Lebensinteresse verletzt, tatsächlich für uns unentbehrlich?
Nicht nur nach unserm Gewohnheitsgedanken oder gar unsern Gewohnheits-
wünschen. Sondern mit einer Weltakten-Revision, die nach aller Men-
schenmöglichkeit rein sachlich ist. Schwierige und schwierigste Fragen, denen
gegenüber das Reden von „Scheidemannfrieden" und „tzindenburgfrieden"
doch wohl an der Oberfläche bleibt. ^

(V>er neue Geist! Das Menschengehirn arbeitet in sein Denken aus
^allen Eindrücken der Welt auf einmal doch nicht mehr hinein, als es
zur Wiederherstellung seines inneren Gleichgewichtes braucht. Die über-
napoleonischen Kämpfe der Zeit, selbst die sehn viele, wo sie nicht selber
unmittelbar betroffen wurden, nur wie ein Schauspiel, nur, wie vom
Parkett zur Bühne. Noch weniger Menschen empfinden trotz allen „Inter-
esses" daran die inneren Nmwandlungen der Gegenwart tief, gegen
welche doch selbst die der französischen Revolution mit allen ihren Folgen
 
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