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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,1.1917

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1917)
DOI Artikel:
Avenarius, Ferdinand: "Der neue Geist"
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Schmidt-Hellerau, Karl: Materialgefühl
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https://doi.org/10.11588/diglit.14422#0230

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nur örtlich beschränkt und sachlich minder bedeutend waren. Allgemein
wird sie erst das nächste Iahrhundert sehn. Dsr ganze Osten, der auch die
Entwicklung der deutschen Politik so wesentlich mitbestimmt hat, wird nach
dem Krieg völlig verändert sein, ob Maximalisten oder Minimalisten, ob
Zar oder sonstwer in dem die Gewalt hat, was vor dem Kriege das Zaren--
land war. In England, Frankreich, Italien, in Amerika werden mit neuen
Verhältnissen neue Völker neue Aufgaben stellen auch für uns. Der Balkan
wird etwas Neues sein. Selbst das verbündete Osterreich wird etwas ganz
anderes sein, als es war. Wir selber werden anders sein. Im Organis-
mus der Menschheit aber sind auch wir Deutschen als Volk nur eines
der Organe, Ein desto stärkeres, je mehr wir uns verbünden, ein desto cdleres,
je edler wir uns betätigen. Der neue Geist verlangt ein Nachprüfen jedes
politischeu und sozialen Gedankens und Gefühls. Wer das nicht leisten
kann, wird rudimentär, wird nichtsnutz wie der Blinddarmfortsatz, der
einst mitverdaut hat und jetzt nur aufhält, um zu entzünden. Wird
bestenfalls zum lahmen Bein, ein bißchen mitstützen hilft es wohl noch,
aber vorwärtsschreiten kann's nicht mehr. Der „neue Geist" muß von
jedem Einzelnen erarbeitet werden. Wer das nicht begreift und dem
nicht Folge gibt, dessen Zeit ist vorbei. A

Materialgefühl

^fv^-ir haben in Deutschland eine umfangreiche Literatur über künst-
V Hlerische Dinge, wir haben Kunstakademien und Kunstgewerbe-
^^^schulen, ein großer Teil der Bilder aus allen europäischen Gale-
rien wird in tzunderttausenden von Abzügen bei uns verbreitet, — und
wir haben so wenig Kunst. Wir haben eine kleine literarisch-ästhetisch
gebildete Schicht, die viel alte Kunst gesehen hat und in der Literatur be-
schlagen ist; — wenn man aber als kunstgewerblicher Fachmann mit diesen
Kreisen zu tun hat, so merkt man, wie nur wenige von ihren Angehörigen
einen guten, sicheren, selbständigen Geschmack haben. In allen Pensio-
naten, in vielen höheren Schulen wird Kunstgeschichte gelehrt, — und
wenn nachher die jungen Menschen das Gelernte praktisch anwenden, sich
eine Ausstattung wählen oder sonst ein gutes Stück kaufen wollen, so
wissen sie das Gute vom Schlechten nicht zu unterscheiden und stehen
hilflos da. Auf der Weltausstellung in Brüssel befanden sich in der ita-
lienischen Abteilung gefühlvolle Figuren jämmerlichster Art. Die ge-
schäftstüchtigen Italiener hatten die Besuchskarten der Besteller (ss waren
fast ausschließlich Deutsche!) eine an die andere gesteckt; einzelne Figuren
trugen (00 und mehr Karten. Neunzig vom Hundert dieser „kunstsinnigen"
Leute hatteu akademische Bildung. Wieviele tausend Bilder werden
alljährlich gemalt, und wie wenigs sind dabei, von deren Nrhebern man
sagen kann, daß sie wenigstens Geschmack haben! Wie viele Bauten
werden in jedem Iahre aufgeführt, wie viel Architekturentwürfe werden
veröffentlicht, und wie wenige davon scheinen schon nach wenigen Iahren
noch erfreulich! Anläßlich der Kupfer- und Messing-Sammlung hat man
den Vorschlag gemacht, die Mehrzahl unsrer Denkmäler aus den letzten
vier Iahrzehnten einzuschmelzen. Es hat sich im ganzen Deutschen Reich
keine Stimme dagegen erhoben, weil das niemand als einen künstlerischen
Verlust empfinden würde, trotzdem heucheln wir in der Kunst immer
weiter. Der Krieg ist noch nicht zu Ende, und schon plant man Tausende
von Kriegerdenkmälern und verbreitet soundso viel gute und schlechte

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