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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,2.1918

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Heft 9 (1. Februarheft 1918)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14372#0097

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Vom Heute fürs Morgen

Das Selbstbestimmungsrecht der kleinen
Völker und der Friede

en verschiedenen Nationalitäten, die
, vor dem Kriege nicht politisch un»
abhängig waren, wird die Möglich-
keit gewährleistet, über die Frage ihrer
Zugehörigkeit zu diesem oder jenem
Staate frei zu bestimmen oder durch
eine Abstimmung über die nationale
Unabhängigkeit zu entscheiden/' Die-
s e n russischen Vorschlag hat die Vier-
bunddelegation in Brest-Litowsk ab-
gelehnt. Ob dies das politisch einzig
Mögliche war, wissen wir nicht. Da die
russischen VorschlLge als allgemein
verbindliche Grundsätze aufgestellt wa-
ren und nur als solche in Kraft
treten sollten, wäre durch sie weit-
aus am stärksten der heute noch frie-
denfeindliche Westen betroffen worden.
England hätte danach sicher die Herr-
schaft über Irland, Aghpten, Palästina,
Mesopotamien, wahrscheinlich auch die
über Indien aufgeben müssen, Frank-
reich die über Marokko, Belgien viel-
leicht die über Flandern, Iapan die
über koreanische und chinesische Ge-
biete. Die Türkei dagegen und Bul-
garien hätten mit der Anerkennung
diefes Grundsatzes kaum Wesentliches
gewagt. Deutschland vielleicht ein Stück
von Lothringen, von Schleswig und
von Westpreußen und Posen. Aber
auch alles das nur, falls man irreden-
tistische Gruppen auch als „politisch
abhängige Nationalitäten" im Sinne
jenes Grundsatzes auffajzte, obwohl doch
offenbar nur geschlossen siedelnde Völ»
kerschaften in Frage kommen können.
Für zerstreut siedelnde Rassen ist ja
nur cin Optionsrecht aufstellbar und
durchführbar; mit letzterem aber habenin
der Form der „Austansch-Siedelung"
sogar die Alldeutschen gespielt, es wäre
also vielleicht nicht so unannehmbar
wie es scheinen mag. Schwerere Ge-
fahr wäre aus der Annahme des rus-
sischen Grundsatzes nur für ben Be-
stand der Donaumonarchie erwachsen.
Zwar, die mehr oder minder irreden-
tistischen Gruppen der Rumänen, Süd-
slawen, Italiener, Deutschen in öster-
reich hätten bei Mehrheitsbeschluß wohl

zum Teil für Österreich sich entschlos-
sen, wenn überhaupt für sie und die
Ruthenen nicht nur das Optionsrecht
in Frage gekommen wäre. Aber die
Polen hätten Selbständigkeit gewählt.
Die Tschechen auch? Wie lange würds
ihre „Selbständigkeit" dauern können,
rings umschlossen von Deutschland und
Deutsch-Ssterreich, in all und jeder Be-
ziehung abhängig vom guten Willen,
vor allem Wiens? Ich für mein
Teil glaube, man könnte die Tschechen
ruhig „selbst bestimmen" lassen, nach
drei Wochen würde ihr romantischer
Traum vom tschechischen Weltstaat
znsammenstürzen und würde die poli-
tische Begabung ihrer Führer mit der
eben hinweggestimmten Vergangenheit
wieder lebhaft liebäugeln. Alles in
allem: Bei den Vierbundmächten
würdc die Durchführung jenes rus»
sischen Grundsatzes schlimmsten Falles
zwar gewaltigen Stimm- und Papier»
verbrauch verursachen, aber ihrer
Machtstellung nicht mehr Abbruch tun,
als sie im Taüsch gegen die ungeheure
Machtminderung der Weststaaten bei
Befreiung aller unterworfenen Völker
vielleicht hingeben könnten.

Sehen wir indes davon und auch
von den tausend Schwierigkeiten ab,
den „freien Willen" einer „Nationali-
tät" bürokratisch rein herauszudestillie-
ren -- die russischen Politiker, welche
jenen Grundsatz vorschlugen, haben sich
damit kaum als besonders weitsichtige
Friedensfreunde ausgewiesen. Dieser
dritte Friedensgrundsatz ist kein
Grund-, sondern ein Oberflächensatz.
Die allernotwendigste, denkbar kürzeste
Erklärung dazu, sofern sie die praktische
Durchführung ermöglichen sollte, müßte
z. B. folgende Fragen beantworten:
Was ist eine Nationalität? Woran
wird die Zugehörigkeit zu einer solchen
zweifelfrei erkannt? Wie werden die
Grenzen einer zur Selbstbestimmnng
berechtigten Nationalität objektiv fest-
gestellt? Nach welchen Grundsätzen
werden die Finanzen im Falle der
Verselbständigung bisher „abhängiger"
Nationalitäten geregelt? Wer haftet
für die Schulden? Wie wird die „Frei-
 
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