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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,4.1918

DOI Heft:
Heft 22 (2. Augustheft 1918)
DOI Artikel:
Hartwig, Ernst: Ein politisch Lied - ein leidig Lied
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https://doi.org/10.11588/diglit.14374#0134

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Verhältnis ist dem Spiel vergleichbar: beide Spieler wollen gewinnen, und
von diesem Trieb lebt das Spiel, die Gewinnmöglichkeit ist die „Prämie" der
Spieler. Aber bei vielen Spielen muß nicht einer gewinnen, können viel-
mehr beide gleichmäßig gewinnen (und verlieren). Und vornehme, denkende
Spieler schätzen den erfreulichen Verlauf des Spiels, zuweilen sogar den Geist-
reichtum des Gegners, höher als den eignen Gewinn.

Ein politisches Gespräch ist dann „ungemütlich", wenn es mit unzureichen-
den Begründungen durchgeführt wird, wenn der Eine nicht auf den Andern,
der Andre nicht auf den Linen eingeht, wenn für die Teilnehmer Politik —
„Geschmacksache" ist. Zwei unbegründete Meinungen platzen aufeinander wie
Kanonenkugeln, zwei begründete begegnen sich wie Heerhaufen. Sollten poli-
tische Gespräche bei uns vielleicht darum so oft „leidig" sein, weil die Teil-
nehmer nicht über Gefolgschaften von Gründen, sondern nur über die Kanonen-
kugeln ihrer Meinungen verfügen? Wäre die Beliebtheit des Faust-Wortes nur
ein Ausdruck der politischen Anreife unsres Volkes, das bis weit über Bis-
marcks Tage hinaus in einem Obrigkeitstaat lebte, wo man die Politik von
kaiserlichen Vertrauensmännern und von Beamten „besorgen" ließ? Ich meine,
sie ist eine Folge dieser Anreife, aber sie ist nicht nur das. Und auch dieses
Wort kann man wohl noch ein wenig auslegen.

Politische Reife verwechseln viele mit politischen, will sagen: geschichtlichen,
wirtschaftlichen, geographischen und anderen Kenntnissen. Ie mehr einer weiß,
meinen sie, um so richtiger denkt er. Mindestens ebensoviel, wahrscheinlich mehr,
kommt aber auf den Einblick in das politische Getriebe an. Diesen Linblick
erhält man auf sehr viele, heute aber und seit langer Zeit hauptsächlich auf zwei
Weisen: durch Kennenlernen der Sache selbst, des politischen Betriebs nämlich,
und durch Kennenlernen der darin herrschenden Meinungen. Die weit
überwiegende Mehrzahl der Menschen lernt heute überhaupt nur politische
Meinungen kennen, und zwar durch Hörensagen, durch Zeitungen und Schriften.
Das heißt aber: in dem Augenblick, da sie anfangen, der Politik ihr Augen-
merk zuzuwenden, beginnt schon der Wille irgendwelcher Anderen sich des
ihren zu bemächtigen, und zugleich stellen ihnen diese Anderen die Sache so
dar, daß auch der Klügste den vom Anderen gewünschten Schluß ziehen, den
vom Anderen gewünschten Entschluß fassen müßte, — weun der Andre sie ganz
richtig und ganz vollständig dargestellt hätte. Dagegen helfen kann nur eigne
Sachkenntnis oder politischcr Instinkt. Sachkenntnisse bringen junge Deutsche
aus der Schule bekanntlich zur Politik nicht mit, und aus der Universität auch
nur selten. Und mit viel Instinkt kommt der Deutsche erst recht nicht auf die
Welt; er ist nicht unfähig der Kritik, wenn sie ihm zur Pflicht gemacht und
wenn ihm ihre Methode beigebracht wird, aber er übt sie sehr selten von Natur.
Die politische Instinktlosigkeit wird nun oft aufgefaßt als eine Naturgegeben-
heit, gegen die nichts rechtes zu machen ist. Aber solche Auffassung sollte nicht
dazu führen, die Hände in den Schoß zu legen. Vor allem sollten wir uns
nicht einfach damit begnügen, das politische Verhalten des Heranwachsen-
den Deutschen im Naturzustande der Instinktlosigkeit zu belassen und alle poli-
tische Pädagogik nur auf Kenntnisübermittelung, auf das „bißchen staatsbürger-
lichen Unterricht" abzustellen, das ausweislich der Lehrbücher bisher von poli-
tischem Denken kaum berührt wurde. Was ist denn politischer Instinkt, sachlich,
nicht bloß pädagogisch betrachtet, anderes als Sinn für Machtbestrebungen,
leichtes, rasches Erfassen gegebener Machtverhältnisse und leichtes, raschcs Aus-
sprechen der eigenen Entschlußfähigkeit, des eigenen Machtwillens? Das sind
freilich alles Worte ohne rechte Anschaulichkeit. Zum Pergleich denke man an
das Ehrgefühl, das bei einer gewissen Schicht von Deutschcn heute sehr rasch
und leicht „in die Höhe geht" — bemerkenswerterweise zum guten Teil infolge
von Züchtung und Erziehung, nicht nur von angeborenem Instinkt. Die stärk-
sten Veranschaulichungen politischen Instinktes findet man vielleicht in der
französischen Literatur, etwa in Beyles „Le rouge et le noir" oder in Werken
wie Boissicrs Biographie Eäsars und Seillieres „Romantischer Krankheit".

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