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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 31,4.1918

DOI Heft:
Heft 23 (1. Septemberheft 1918)
DOI Artikel:
Corwegh, Robert: Strömungen und Richtungen der gegenwärtigen Malerei, 2
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https://doi.org/10.11588/diglit.14374#0156

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die Bewegung. Aus dieser Verfassung heraus will der Italiener ivon
heute, obgleich er sich als Erbe der alten Römer sühlt, mit der Vergan-
genheit brechen. Er überschätzt das Technische der Zivilisation gegenüber
den Werten der Vergangenheit. Er würde den Florentiner Dom ohne
Wimperzucken für die Weiche einer elektrischen Fernbahn abtragen. Nur
das Gegenwärtige bejaht er. Ausleben ist sein Schlagwort, das er als
Austoben ins Leben übersetzt. Äbertriebener Individualismus hüllt sich
in das Gewand der sozialen Phrase, denn nur in der Phrase, im hohl-
tönenden Pathos, vermählen sich diese Gegensätze. Nirgends in der Welt
wird so viel von nationaler Einheit geredet als in Italien, und doch stehen
sich Norditaliener und Süditaliener oder gar Sizilianer so fremd gegen-
über wie Balte und Kleinrusse. Das Gärende eines Werdenden über-
tragen die Futuristen aus dem Leben ihres Staates, aus dem eigenen
Leben, in die Kunst. Ihre Führer sind auch die Führer der Partei der
„piazza", die Hetzer zum Kriege. Wollte man die Kunst der Futuristen
nach ihren Wortsührern beurteilen, man würde leicht ungerecht. F. F. Ma-
rinetti, sogar Giovanni Papini und sein florentiner Anhang von der
„Voce" sind nichts als anarchistische Snobs, doch in der Hauptsache Snobs.
Ich habe Papini in Florenz im Laufe weniger Iahre als Pragmatisten,
als Hegelianer, als Nietzscheaner, als Bergsonianer immer als Sturm-
vogel der neuesten Richtung kennen gelernt; allein das, was jeder Be-
wegung Schwungkraft verleiht, das fehlte; hinter den tönenden Worten
stand die Leere der Gesinnung. Man machte Bewegung um des Bewegens
willen, nicht aus innerer Notwendigkeit, nicht aus Äberzeugung. Dazu
kommt, was Italienern so leicht widerfährt, die Narkose im und am Wort-
schwall. Man redet so lange über etwas, bis man in der Trunkenheit der
eigenen Worte alles glaubt, selbst das Widersinnigste. Manche, wie Mari-
netti oder Sofici, werden überhaupt nie nüchtern vor Worten. Iugend
ist zwar Trunkenheit ohne Wein und ihr erlaubt man gern Torheiten;
aber sie darf aus ihrcm Rausch heraus nicht Weisheit predigen wollen.

Sie darf nicht in Äberschätzung von Wundern der Technik reden, ohne
die notwendige wissenschaftliche Einsicht in das Wirken der Naturkräfte.
Wo wären alle diese Wunder ohne die Mathematik, in deren Formeln
der denkende Mensch sie faßt? Allein diese Verächter der wissenschaft-
lichen Lrkenntnis haben nur nötig, ein paar klingende Phrasen hinzu-
schmeißen, und meinen dann, wir würden diese blechernen Spielmarken
für echtes Gold nehmen. Sie irren, auch wir haben ein Recht auf das
Lachen, auch wir dürfen auf einen Dummkopf, den sie dem seines Denkens
frohen Menschen an den Kopf werfen, zwei Dummköpfe setzen. Das Mani-
fest des Futurismus von Marinetti ist nicht eine tzerausforderung an den
Philister, es ist die Negation jeglicher Vernunft, es ist die Kriegserklärung
gegen alles Gewordene. Von vorn anfangen möchte Marinetti; und wie
die Katze, die über den eigenen Schwanz springen will, stößt er überall
an eigene Gebundenheiten, an das Gewesene. Daher sein lautes Schreien.

Es wirkt lächerlich, befreiend lächerlich, wenn in der Erklärung zu einem
Gemälde „Das Lachen" das Wort „Röntgenstrahlen" in einem Sinne
gebraucht wird, der beweist, daß der Verfasser, der begeisterte Verehrer
alles Technischen, nie die Wirkung von T-Strahlen beobachtet hat. Lach-
reizend wirkt, wenn wir im „Manisest des Futurismus" lesen: „Wir
wollen den Mann preisen, der am Lenkrad sitzt, dessen gedachte Achse die
aus dem Nmkreis ihrer Planetenbahn geschleuderte Erde durchbohrt."

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