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Deutscher Wille: des Kunstwarts — 32,1.1918

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Heft 6 (2. Dezemberheft 1918)
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Vom Heute fürs Morgen
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https://doi.org/10.11588/diglit.14375#0222

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Vom Heute fürs Morgen

Heilige Nacht

s ist Älacht u.m uns gewoi-den. Diel«
meinen, daß es überhaupt nicht mehr
dunkler werden könne. Ader wer kann
sagen, was etwa nur in der Zeit ge°
schehen mag, die zwischen dem Nieder--
schreiben dieser Zeilen und ihrer Auf-
nahme durch den Leser vorgehen wird!
Wir haben vier Kriegsweihnachten ge°
feiert in Hoffnung auf den Frieden.
Aber der Friede, den wir uns als ein
Licht vorstellten, kommt zu uns in der
fünften im Gewande der Nacht. Wir
haben fälschlich von draußen das Licht
erwartet, wir träumten von Sieg und
Gewinn. Aber draußen ist es Nacht
geblieben. Dieses Draußen umfaßt nicht
nur das Schicksal unseres Volkes im
Zusammenhang mit den anderen Völ-
kern, sondern auch die Zuständ« im
Innern. Es kommt jetzt erft ganz
heraus, was wir wußten und doch
nicht wußten, daß wir nicht nur
im Völkerkrieg, sondern auch im Bür°
gerkrieg gelebt hatten, schon damals,
als «s noch „Frieden" war. Der Groll
zwischen den Klassen und Ständen un-
seres Volkes war da. Durch die gemein-
same Abwehr des Feindes wurde «r
zurückgehalten, aber nicht entwurzelt.
Der „Antichrist" war bei uns heimisch
geworden, hatte sich auf den Thron
gesetzt und regierte uns, ohne daß wir
es wußten. Ietzt wissen wir es: die
Nacht, in der wir uns stoßen, drängen,
mißtrauen und hassen, macht es offen-
bar. Der Antichrist saß in unseren Bü°
ros und hinderte die Beamten, unter-
einander und im Derkehr mit dem
Volk, in dessen „Dienst" sie standen,
Menschen zu sein. Der Antichrist schritt
durch die Kasernenhöfe und schuf da
einen Ton, über den wir lachten; wir
hätten besser getan, darüber zu zürnen.
Der Antichrist wohnte im Herrenhause
des großen Rittergutes, oder des Di-
rcktors cines mächtigen Unternehmens.
Wer meinte, die sozial aufwärts stre-
bende und für ihre Zukunst kämpfende
untere Schicht habe eine nur bessere
Entlohnung begehrt, täuschte sich. Sie
forderte vor allem mchr Menschlichkeit,
mehr Achtung vor der Persönlichkeit

auch im Arbeitskleid, mehr Brüderlich-
keit im Verkehr. Ganz gewiß, es hat
viele Einzelne gegeben, die sich nicht
ganz oder überhaupt nicht vom Anti-
christ meistern ließen, aber der Gesamt-
ton von oben bis unten war nicht
„christlich". Wir machten Anterschiede
in der Anrede und im Benehmen, je
nachdem wir es mit diesem oder jenem
zu tun hatten. Wir hörten gelegentlich,
daß es Länder gebe, in denen die Men-
schen trotz aller vorhandenen sozialcn
Anterschiede im Ton einer selbstver-
ständlichen Menschenachtung miteinan-
der verkehrten. Aber bei uns gehörte
das Gegenteil zum Shstem. Alle Sün-
den strafen sich, und wir erleben jetzt
unser Strafgericht. Daß dabei die Un-
schuldigen mit den Schuldigen leiden,
darf uns nicht wundernehmen, denn
wir sind wie als Volksmitglieder so
auch als Aitgehörige eines Standes
solidarisch füreinander haftbar. Wohl
uns, wenn uns das Unchristliche un-
seres Gesellschaftsshstems zum Bewußt-
sein kommt! Das ist das erste Auf-
flackern des Lichts in der Finsternis.
Es war nicht ohne komischen Beige-
schmack, als schon bei dem Drohen des
Zusammenbruchs dcs alten Shstems Ex°
zellenzen mit unsereinem ohne die vor-
her übliche Herablassung redeten, aber
was vielen unter diesen zu spät däm-
merte, das wird jetzt als eine neue
Lrkenntnis, Gesinnung und Abung in
unseren Seelen geboren. Ein Tag der
reinen Menschlichkeit wird anbrechen.
Und was ist der Lhristusgeist anderes,
als eben der Geist der Menschlichkeit im
tiefsten Sinne! Es kann zunächst viel-
leicht nur so weitergehen, daß der
Epoche der mangelnden Menschlichkeit
von oben die Epoche der mangelnden
Menschlichkeit von unten folgt. Das
ist für die unschuldig Leidenden bitter,
aber es ist doch dopvelt bitter für die
Schuldigen. Immerhin — das alles
geht in Tagen, Wochen oder Monaten
vorüber. Die Nacht aber, in der der
Aufstieg des Lichts geschieht, ist die
heilige Nacht. Dunkler, sagten wir,
könne die Nacht kaum mehr werden, als
sie ist. Und gleichwohl: wenn das

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