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Deutsches Kunstblatt: Literaturblatt des Deutschen Kunstblattes — 3.1856

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Literatur

Blatt

d e s

Deutschen Annstblattes.

M 1«.

Donnerstag, den 7. August.

1836.

Inhalt: Die Leute von Seldwyla. Erzählungen von Gottfried Keller. — Monatsschrift für Theater re. — Theatralisches von Woltersdorff. —
Atalanta Baglioni von Lohmann. — Die Entziehung der Bor- und Zwischenmusik von Gnbitz. — Was Ihr wollt. — Zeitung. — Säcnlarfeier des
Todestages Georg Friedrich Haendel's.

Die Leute von Seldwyla.

Erzählungen von Gottfried Keller.

Die Erzählungen sind das Erzeugnis; einer eben so ursprüng-
lichen als vollkräftigen Dichternatur; den Charakter derselben kann
man, die richtige Fassung des Begriffes vorausgesetzt, als einen ge-
linden Humor bezeichnen, d. h. als einen solchen, welcher nicht
in gewaltigen Sprüngen sich zwischen den Reichen des Idealen und
Realen, des Erhabenen und des Komischen hin und her bewegt, son-
dern auf der mittleren Linie des wirklichen Lebens einen anmnthigen

auch, daß selbst mittelmäßige Dichter wenigstens im Roman dem-
selben gefolgt sind. Keller hat dies und noch mehr gethan; nicht
einen bloß allgemeinen weiten, nationalen, sondern einen nahen, be-
stimmten Hintergrund hat er gezeichnet; wohl wissend, daß die Ent-
wicklung der Individualität zunächst und zumeist von der bestimmten
und natürlichen Anlage und der nächsten Umgebung, von den indi-
viduellen Verhältnissen und Charakteren der eignen Familie bedingt
ist, daß aber auch von den öffentlichen Zuständen der Stadt, von
der durchschnittlichen Sitte, Neigung, Richtung und Art der gesamm-
tcn Einwohner mancherlei Einflüsse auf jedes Gemüth, manche Be-
dingungen für jede Handlung, mancherlei Antrieb und Hemmung für'
jeden Charakter entspringt, hat er ein Bild von Seldwyla und sei

Gang geht. Der Erfolg dieser gesunden und gelinden humoristischen _ _ _..

Weltanschauung ist es, die Poesie und die Freude des wirklichen j nen Einwohnern entworfen, bevor er uns in die einzelnen Straßen
Lebens darin zu finden, zu enthüllen und darzustellen, daß neben dem ; und Häuser ein führt, wo wir die Helden seiner Geschichten finden.

Kleinen das Große, neben dem Schwachen und Fehlerhaften das
Anziehende und Liebenswürdige, neben dem Einfachen und Alltäg-
lichen das Tiefe und Mächtige, das Ergreifende und Gewaltige der sonniger Ort irgendwo in der Schweiz, und ist daher auch in den
inneren Menschennatur zu Tage tritt. Dem ächten Humor ist es dortigen politischen Verhältnissen verflochten; aber das Leben der

Mit wenigen aber meisterhaften Zügen zeichnet er in den Seldwylern
ein leichtes und lockeres Völklein; Seldwyla heißt ein wonniger und

ächten Hum

immer eigen und Gottfried Keller versteht cs ganz vorzüglich, seine
poetischen Gestalten mit der schärfsten und feinsten pragmatischen
Wahrheit zu entwickeln; dadurch wird der Mensch und das Mensch-
liche unmittelbar im Ganzen wie im Einzelnen zum Gegenstand des
Humors, weil eben ans die kleinen und seinen Anfänge der Bildung
der Individualität zurückgegangen, ihre Größe und Bedeutung zu-
gleich (und znnl Theil daraus) begriffen, ihre mannigfaltige Aenßc-
rungsweise zugleich erkannt und erklärt wird. Darum wird diese
poetische Gestaltungsform immer so anziehend, so erquickend und er-
hebend sein, so ganz und gar an das ganze Herz des Lesers sich
anschmiegen, wenn sie nur wirklich, wie cs hier geschehen ist, einer-
seits bis in jene kleinsten Verzweigungen der Lebenswurzeln der In-
dividualität hinabsteigt, und andererseits zu einer blühenden und
fruchttragenden Krone derselben sich erhebt; im Spiegel des Wirk-
lichen zeigt sie dann zugleich die Sehnsucht und den Aufschwung des
idealen Lebens.

Wie sehr er sich dieser Aufgabe des psychologischen Pragma-
tismus bewußt ist, und wieviel Fähigkeit er besitzt, sic zu lösen, zeigt
der Vers, gleich in der Anlage seines Buches; die verschiedenen Er-
zählungen stehen in keinerlei äußerlichen Zusammenhang der Per-
sonen oder Handlungen, aber er hat ihnen einen inner» Zusammen-
hang gegeben; es sind sämmtlich „Leute von Seldwyla"; sie haben
alle den gemeinsamen Boden entweder der Entwickelung oder der
Bethätigung ihres individuellen Charakters. Unsere geneigten Leser
erinnern sich vielleicht des im Literaturblatte (Nr. 25 des sechsten
Jahrgangs) entwickelten Gedankens, von der Nothwendigkcit auch für
jede freipoetische Aktion einen realen und historischen Boden zu suchen
und zu zeichnen; nirgends wird das Gesetz so unbedingt gelten, als

Seldwyler ist nicht auf die That, sondern auf den Genuß gestellt,
und nicht bloß jene wird mehr durch den Schein ersetzt, sondern
auch dieser ist ans den Schein gerichtet; das Streben ist kraftlos, die
Ziele ohne Mark, das Leben ist leicht, lose und leer. In allen
Dingen des öffentlichen, wie des Privatlebens sehen wir also vcr-
fallcne und verfallende Verhältnisse. Was kann auf einem solchen
Boden Gutes gedeihen? — So könnte man wohl fragen. Und in
der That lag die Gefahr nahe genug, entweder zur reinen Satyre
zu gelangen, oder in eine für die Poesie wie für das Leben gleich
sehr nichtsnutzige Wettschmerzempfindung zu versinken. Statt dessen
bringt uns der Vers. Dichtungen, welche Freude bereiten, weil sie
auch auf diesem Boden die Freude am Leben erhalten; auch auf
Lavaboden der Wirklichkeit sprießen die kräftigsten Reben der Poesie.

Was kann auf diesem Boden gedeihen? Es ist zweifelhaft, ob
der Dichter diese Frage sich in bewußter Weise vorgelegt hat, um
in seiner Dichtung eine Antwort darauf zu gebe;:; aber dennoch
glauben wir ganz ans dem eigensten Inhalt derselben heraus die
Betrachtung zu nehmen, daß diese Frage der gemeinsame Kern oder
Stamm ist, aus welchem die verschiedenen Erzählungen wie ver-
schiedene Zweige hervorgewachsen sind; uns wenigstens hat sich die
Anschauung aufgedrängt, daß die verschiedenen Erzählungen zeigen,
wie unter verschiedenen Bedingungen auch auf diesem morschen und
ruinenhaften Grunde sich ein mannigfaltiges, individuelles, charakte-
ristisch bestimmtes, also reizvolles, wahrhaft poetisches Leben ge-
staltet.

In der ersten Erzählung sehen wir einen bedeutenden Charakter
und durchaus eigenthümliche Lebenöverhältnisse sich dadurch entwickeln,
daß der Helo der Geschichte, nachdem die ersten Anfänge seiner In

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für alle epische Poesie, und die Geschichte der neueren Poesie beweist! dividnalität unter den heimischen Verhältnissen sich entfaltet haben

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