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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 6.1900

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Heft 9 (Juni)
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Becker, Marie L.: Formen-Sprache
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https://doi.org/10.11588/diglit.6696#0173

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Marie Luise Becker—Berlin: Formen-Sprache. 447

hermann junker—Karlsruhe. Bildniss des Freiherrn von Meyern-Hohenberg.

FORMEN-SPRACHE.

Nachdruck verboten.

Und die Königstochter verstand die
Sprache der Vögel und die Sprache
der Blumen.« — Dies altorientalische
Märchen wort brachten uns vor iooo Jahren
die Kreuzfahrer heim aus der uralten Wiege
des Menschen-Geschlechtes, der sagen- und
märchenreichen Völkerquelle Mesopotamien.
Sie brachten mittelalterlicher Poesie und
Kunst neue Anregungen, neue Motive, neue
Bilder, doch nichts Fremdes. Auch im
ältesten Urvolke wurzelt schliesslich diese
Idee der redenden Natur, die eben durch
ihre Sprache — d. h. durch ihr Verhältniss
zu uns und zum All, uns Menschen zum
Symbol für dies und jenes Empfinden, dies
und jenes Ereigniss wurde. Das Thier und
die Planze schuf sich der Mensch zum Sinn-
bild dessen, was ihr Anblick in ihm wach-
rief und darum redet auch die Formensprache
der Natur so lebendig zu uns! Und auch

wir aufgeklärte Kinder des 19. Jahrhunderts
müssen diese Sprache verstehen lernen —
die köstlich geheimen Worte, die die Welt
um uns zu uns redet, und die uns diese
Zaubergabe des Königskindes, die Sprache
der Thiere und die Sprache der Blumen
lehrt, es ist die Kunst! Sie wurde — und
die gewerbliche Kunst mehr noch, als die
rein bildnerische — die symbolische Ver-
mittlerin der Völker und ihrer Götter, in
der die Todten, die längst Verwesten noch
heute zu uns sprechen, uns noch heute nach
Jahrtausenden ihre tiefinnersten Ideen ver-
rathen! Redende Blüthen und Blattformen,
redende Thiergestalten sind allezeit die
stilistischen Motive gewesen und das Orna-
ment hat erst Lebensfähigkeit, es hat erst
vollblühende Lebenskraft, wenn es gleich-
viel, ob stilisirt oder naturalistisch behandelt
durch die Symbolik, durch das angestammte
Verständniss für seine Sprache direkt zum
Beschauer sprechen kann. Wir hatten diese
Formensprache lange verloren — ein geist-
 
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