3'0
Rainer Maria Rilke—Westerwede:
H. VOGELER—WORPSWEDE,
»Die Wunder-Blume*. Feder-Zeichnung.
lichkeit auszusprechen sich
bemühte. — Für Menschen
von ganz entschiedener, nicht
auf Breite angelegter Art
gibt es immer an einer Stelle
ihrer Entwickelung einen
Kreuzweg, und man könnte
zwei Geschichten über sie
schreiben: indem man sie
das einemal rechts gehen
lässt und das anderemal
links. Die beiden Geschich-
ten gingen von diesem
Punkte ab auseinander und
würden, immer divergieren-
der, zu ganz verschiedenen
Zielen hinführen. Von die-
sen zwei Geschichten würde
die eine notwendig trauriger,
die andere notwendig glück-
licher verlaufen müssen,
beide aber können voll Be-
wegung sein und nicht ohne
tragische Momente. Ich
habe in diesem Falle die
glücklichere Geschichte zu
schreiben. Die Geschichte
desjenigen, der, auf eine be-
stimmte Wirklichkeit ange-
legt, thatsächlich diese Wirk-
lichkeit immer mehr und
immer besser bestätigt sieht,
dem immer weniger Be-
fremdliches und Störendes
geschieht, weil er immer
fähiger wird, das Fremde
in Eigenes umzudeuten, mit
Eigenem auszusprechen und
auf eigene Art zu erleben.
Natürlich: es bleibt noch viel
Fremdes übrig, und viel
Grosses, welches sein Gleich-
gewicht gefährden könnte
und das in sein harmo-
nisches Leben sich nicht
würde einfügen lassen, etwa
wie ein Berg als Bau-Stein
nicht benutzbar wäre; ja es
bleiben vielleicht alle letzten
grossen Dinge ausserhalb
Rainer Maria Rilke—Westerwede:
H. VOGELER—WORPSWEDE,
»Die Wunder-Blume*. Feder-Zeichnung.
lichkeit auszusprechen sich
bemühte. — Für Menschen
von ganz entschiedener, nicht
auf Breite angelegter Art
gibt es immer an einer Stelle
ihrer Entwickelung einen
Kreuzweg, und man könnte
zwei Geschichten über sie
schreiben: indem man sie
das einemal rechts gehen
lässt und das anderemal
links. Die beiden Geschich-
ten gingen von diesem
Punkte ab auseinander und
würden, immer divergieren-
der, zu ganz verschiedenen
Zielen hinführen. Von die-
sen zwei Geschichten würde
die eine notwendig trauriger,
die andere notwendig glück-
licher verlaufen müssen,
beide aber können voll Be-
wegung sein und nicht ohne
tragische Momente. Ich
habe in diesem Falle die
glücklichere Geschichte zu
schreiben. Die Geschichte
desjenigen, der, auf eine be-
stimmte Wirklichkeit ange-
legt, thatsächlich diese Wirk-
lichkeit immer mehr und
immer besser bestätigt sieht,
dem immer weniger Be-
fremdliches und Störendes
geschieht, weil er immer
fähiger wird, das Fremde
in Eigenes umzudeuten, mit
Eigenem auszusprechen und
auf eigene Art zu erleben.
Natürlich: es bleibt noch viel
Fremdes übrig, und viel
Grosses, welches sein Gleich-
gewicht gefährden könnte
und das in sein harmo-
nisches Leben sich nicht
würde einfügen lassen, etwa
wie ein Berg als Bau-Stein
nicht benutzbar wäre; ja es
bleiben vielleicht alle letzten
grossen Dinge ausserhalb