Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 10.1902

DOI Artikel:
Thovez, Enrico: Leonardo Bistolfi - Turin
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.6695#0049
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
teonflRDO BISTOtFI - TURin.

Das moderne Italien hat seinen höchsten
Ruhmes-Titel vielleicht auf dem Gebiete
der plastischen Kunst zu verzeichnen. Die
Skulptur hat namentlich in Ober-Italien, in
Piemont und in der Lombardei, eine Ent-
wickelung erfahren, welche ihr eine Stellung
in der vordersten Reihe europäischen Kunst-
Schaffens sichert. Ja es sind dort sogar
zwei Schulen von ausgeprägter Eigenart
entstanden: der »malerische« Realismus, wie
er in Paul Troubetzkoy seinen Meister an-
erkennt, und der Idealismus, wie ihn Leo-
nardo Bistolfi vertritt. — Wenn die Plastik
der Gegenwart in Auguste Rodin den
mächtigsten Beschwörer des Lebens und
des von Leidenschaften gequälten Fleisches
ihr eigen nennt, wenn ihr Konstantin Meunier
die endgültigen Ausdrucks-Formen für das
fiebernde Treiben unserer industriellen Epoche
gegeben hat; wenn sie in Paul Troubetzkoy
— der zwar auch russisches Blut in den
Adern hat, aber der Geburt, Erziehung und
Ausbildung nach durchaus Italiener ist —
wenn sie in Troubetzkoy den ausschlag-
gebenden Impressionisten erblickt, so wurde
sie von dem anderen italienischen Meister,
von Leonardo Bistolfi, bereichert durch eine
feine, poetische Vergeistigung und durch
ungewöhnliche gedankliche Vertiefung.

Bistolfi ist geboren in Piemont, zu Casale
Monferrato bei Turin im Jahre 1859. Sein
Lebenslauf bietet keine bemerkenswerten
Ereignisse, es sei denn in den einzelnen

Etappen seiner geistigen Entwickelung: er
studierte einige Zeit an der Mailänder Aka-
demie, dann an derjenigen zu Turin, wo er
seine Ausbildung beendigte und jetzt auch
seine bleibende Heimat gefunden hat.

Das, was bei Betrachtung des Werkes
Bistolfi's am schärfsten hervortritt, ist, dass
seine plastischen Schöpfungen alle aus einem
Bedürfnisse nach gefühlsmässigem Aus-
drucke, aus Poesie hervorgegangen sind,
nicht aber aus technischen Neigungen oder
aus der einfachen Liebe zur Form. Dieser
unerschöpfliche Reichtum an poetischem
Inhalte stellt sein Werk auf eiue Stufe,
welche nur von wenigen seiner Kunst-
Genossen erreicht wurde. Und was vom
Gedanken - Gehalte gesagt wurde, das gilt
auch von der materiellen Form: sie ist un-
abhängig vom Einflüsse der akademischen
Schul - Manier, sie ist durchaus selbständig,
aufrichtig, ebenso verfeinert als vernünftig.
Eine Natur, die ganz aufgeht in einer ausser-
gewöhnlichen Sensibilität, die ganz erfüllt
ist von den schwersten Problemen des
Lebens, eine feurige, leidenschaftliche Seele,
dabei aber von einer unverfälschten Auf-
richtigkeit des Empfindens: so vermochte er
der plastischen Kunst einen neuen Geist
einzuhauchen. — Er begann als sentimen-
taler Realist, anschliessend an Cremona, den
grossen Mailänder Maler, auf den auch der
Impressionismus Troubetzkoy's zurück geht.
Dann machte er eine radikale Periode durch,

1902. VII. 5.
 
Annotationen