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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 17.1905-1906

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Michel, Wilhelm: Münchener "Lehr- und Versuch-Ateliers für angewandte und freie Kunst
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https://doi.org/10.11588/diglit.7136#0385

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Landschafts-Studie.

M. FUNKE.

MÜNCHNER „LEHR- UND VERSUCH-ATELIERS
FÜR ANGEWANDTE UND FREIE KUNST".

Dass schon am Anfange des künstleri-
schen Bildungsganges die Natur stehen
müsse, gilt uns heute ganz allgemein als
Axiom. Es fragt sich nur, welcher Begriff
dem Worte »Natur« hier unterzulegen sei.
Dem regelmäßigen Sprachgebrauche zufolge
ist Natur alles, was nicht Kunst ist. Alles,
was in den drei Reichen kreucht, wächst
und fleugt, was sich zu Hügeln ballt, als
Wolke leuchtet, als Wasserfall rauscht, als
Himmel blaut, was sich zum Krystall und
zum Steine zusammenfügt, sei es nun mit dem
geheimnisvollen Automatismus des Lebens
ausgestattet oder nur mit den dumpfen Affini-
täten der Chemikalien — all das ist Natur.
Man sieht schon aus dieser Definition, dass
der Begriff mit einer riesigen Kapazität be-
schwert ist. Er sagt zu viel und sagt daher
zu wenig.

Wollte ich also die »Lehr- und Versuch-
Ateliers für angewandte und freie Kunst«
durch die Feststellung zu charakterisieren
suchen, dass dieselben in erster Linie ein
inniges Verhältnis zur Natur pflegen, so wäre
damit wenig getan. Anders als bisher geht
man hier der Natur zu Leibe, inniger und
zugleich wissender, organischer und zugleich
abstrakter. Man glaubt nicht schon Natur
zu haben, wenn man die äussere Erscheinung

hat. Man sieht in ihr etwas Gewordenes,
Entstandenes, man fasst sie mehr als Produkt
denn als einfaches Phänomen auf. Beim
Naturstudium hält man sich nicht an die
Erscheinung, sondern an das Gesetz, welches
ihr zugrunde liegt und von dem sie erzeugt
wurde. Der Schüler soll hier nicht nur vor
der Natur, sondern auch von ihr lernen.
Mit anderen Worten: Man betrachtet die
Natur als Künstlerin. Man suggeriert ihr
ein Ziel und bewusste Wahl der Mittel zur
Erreichung dieses Zieles. Man stattet sie
mit Bevvusstsein aus, um aus ihren Erschein-
ungen ein Gesetz abstrahieren zu können.
Erkenntniskritisch betrachtet mag dies ein
Irrtum sein. Aber nur solche »Irrtümer«
wirken schöpferisch. Ein Irrtum mag es auch
sein, dass man sich für fähig hält, die Ab-
sichten der Natur zu enträtseln, ihre Ökono-
mie, ihre ästhetischen Mittel richtig zu ver-
stehen. Aber w vollte das Gegenteil nach-
weisen? Keine , der etwas »Richtigeres«
vorbringen könnte. Doch nicht auf Wahr
oder Falsch kommt es hier an. Die Stärke
des Schulprinzips liegt in seinem genetischen
oder organischen Grundgedanken, in dem
Gedanken, dass Naturschönheit nicht ein
simpler Rohstoff sei, sondern etwas nach
ästhetischen Gesetzen Entstandenes. Man
 
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