Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 19.1906-1907

DOI Artikel:
Rambosson, Ivanhoe: Eugène Carrière - Paris
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.9554#0020

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
EUGENE CARRIERE -

„F AMILIENBII.D.

EUGENE CARRIERE-PARIS.

Dieses Jahr sah mit Eugen Carriere eine der
vornehmsten und bedeutendsten Gestalten
unserer zeitgenössischen Kunst dahingehen.
Eugen Carriere war nicht bloß ein außerordent-
licher Künstler, er zählt zu den besten Geistern,
deren die Menschheit sich rühmen kann. Die
Zufälligkeiten bedeuten wenig in seinem Leben
und verschwinden vor dem Gesamtbild seiner
künstlerischen Arbeit.

Ein Denker und ein Erzieher, das war Car-
riere in seinem Schaffen, seinem Leben, seinem
Beispiel. Sein Heroismus gegenüber dem Leiden,
das ihm keinen Schlag ersparte, stärkte die, die
am meisten geprüft wurden. Mit seiner sanft ge-
winnenden Rede erleuchtete er unzählige schwan-
kende Menschen, die bei ihm Rat suchten und
geistige Hilfe.

Seine Unterweisung in der Malerei war eine
Unterweisung in hoher Philosophie. Er hielt sich
nicht wie der Durchschnitt der Lehrer auf bei der
Erklärung der technischen Punkte, die er für un-
wesentlich erachtete. Er zog es vor, die Herzen
zu erheben, die Seelen zu weiten, die Einsichten
zu mehren, indem er seinen Schülern die unwandel-
baren Gesetze aufzeigte, die wirksam sind bei
allen Äußerungen der Natur. Er meinte, das
Publikum müßte in der Kunst ein Mittel finden,
seinen Geschmack und seine Auffassung zu läu-
tern; denn die Kunst sei nichts als ein höheres
Leben. Sie sei die Synthese, das Leben die Ana-
1907. 1. 2.

lyse. Unser Schicksal adeln durch Einführung
eines Ideals, das war Carrieres Ziel. Und wen
ergreift nicht vor einem dieser durchgrübelten
Gesichter eine Art weihevoller Bewegung und der
Wunsch, in Schönheit zu wirken?

Keiner war menschlich tiefer, weil keiner mit
soviel Intensität das Leid wiedergegeben hat, das
Leid, das sich bei der Geburt unser bemächtigt
und uns nicht sterben läßt ohne seine letzte Qual,
das Leid, das den Grund bildet alles Seins, dem
das Lachen selbst nichts ist als eine Maske.

Ich weiß nichts ergreifenderes in der ganzen
Geschichte der Malerei, als diese „Mutterliebe",
die die erlauchteste Zier des Luxembourg-Museums
bildet. Carriere hat in diesem Gemälde mit über-
ragendem Genie all die Gefühle zusammengefaßt
von mütterlicher Liebe, fürchtender Sorge, pein-
voller Prüfung und von Mitleid, all die furchtsamen
Instinkte der Kindheit, all die Tröstungen der
Familie.

Degas, der doch ein glänzender Künstler, hat
über Carriere geäußert: „Er hat viel Talent, aber
ich liebe diese Art gar nicht. Ich liebe zu sehr
die Umrisse der Dinge." Allein in einem Bild
von Carriere ist Besseres als „die Umrisse der
Dinge": Die Personen und die Dinge in ihrer Ganz-
heit. Denn Carriere sah hinter die Umrisse der
Dinge, weiter . . .

Aus der Erscheinung der Welt entzifterte und
übersetzte Carriere das Ewige und das Charak-

13
 
Annotationen