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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 19.1906-1907

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Rambosson, Ivanhoe: Eugène Carrière - Paris
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https://doi.org/10.11588/diglit.9554#0023

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Eugene Carriere—Paris.

einst an der Ecole des beaux Arts der Hohepriester
der Akademiker, Alexander Cabanel, bei der
Korrektur einer schlechten Studie. „Kunst",
hätte Carriere gesagt, „ist's, wenn es lebt!" Es
gibt also die geschickteste Wiedergabe der Natur
nie den Eindruck des Lebens. Wie groß auch
die Virtuosität des Malenden ist, sein Werk wird
immer Stilleben bleiben. Man kann entzückt sein
von der Mache und von der Wiedergabe der
Details, von dieser Leinwand wird nichts aus-
gehen, das euch das Herz ergreift oder die Kehle
zuschnürt. Denn Richtigkeit der äußeren Er-
scheinung ist nicht künstlerische Wahrheit. Die
kopierte Erscheinungswelt, Landschaft, Interieur,
menschliche Figur, ist in der Minute, wo das Auge
des Künstlers darauf ruht, den mannigfachsten
Zufälligkeiten unterworfen; sie zeigt nur einen
Einzelmoment aus ihrer Dauer. Es ist die Synthese
aus allen seinen Einzelmomenten — wenigstens
von mehreren — die der Künstler in seinem
Werk niederlegen muß.

So hat auch Carriere keine einfachen Ab-
bildungen gemalt, die eine äußere Ähnlichkeit
bieten. Ein ganzes Schicksal liegt in seinen Por-
träts. Es genügt, an seinen Paul Verlaine zu
denken, seinen Alphonse Daudet, seinen Goncourt,
um wie in einem Diorama ihre ganze geistige
Wesenheit sich entrollen zu sehen. Nachdem jede

Sekunde unseres Lebens von so vielem Unbegreif-
lichen und Unbekannten begleitet ist, hat Carriere,
in seiner Kenntnis und Verehrung der höheren
Wahrheit, diesem Mysterium, das nach einem
Wort Heilos an der Wurzel aller Dinge ruht,
einen breiten Raum zugestanden.

Man kann unendlich lange träumen vor einem
Werke Carrieres, denn das Mysterium ist von
gestern, von heute und von morgen und die
Menschheit, in der Nacht der Jahrhunderte tastend,
wird sich immer vor der Schwelle seiner Herr-
schaft beugen, wo die Wirklichkeit innehält, um
dem Traume Platz zu machen. Jean Dolent, auf
den man immer zurückkommen muß, wenn von
Carriere die Rede ist, hat dazu ganz richtig be-
merkt: „Die Bestbegabten unter unsern Künstlern
genügen unserm Schönheitsdurst nur halb, oft
versetzt uns nicht das Werk, soweit es Wirklich-
keit geworden, in Leidenschaft, sondern wir gehen
über den Punkt hinaus, wo es halt macht, und
durchlaufen dann allein den Weg, auf dem wir
für eine Weile Gesellschaft gehabt haben." Es war
das Geheimnis Carrieres, uns auf solch einen Weg
zu geleiten, der weiter führt, und unseren Ge-
danken, in einem nur allzu kurzen Zusammen-
sein, eine kräftige Reisezehrung mitzugeben —
zur Vollendung der Fahrt.

Paris, August 1906. ivanhoe rambosson.

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